MALEN NACH ZAHLEN

 

 

Zuerst erkläre ich, warum ich nicht mehr als Schauspieler arbeite und wie ich zu Susannas Detektei gestossen bin. In der Folge berichte ich von zwei Fällen, die ich mehr oder weniger erfolgreich gelöst habe. Dann sage ich einiges über mich und Susanna. Über Ulrich sage ich nichts.

 

 

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Lichtblau

 

Schreib alles auf, hat Susanna gesagt und ein grosses liniertes Heft auf mein Nachtkästchen gelegt, schreib alles auf, das verkürzt dir die Zeit und liefert uns wichtige Hinweise. Womit soll ich beginnen, hab ich gefragt, aber Susanna hat bloss die Achseln gezuckt. Beginne am besten mit deiner Zeit am städtischen Theater, hat sie ein wenig später gesagt und vergiss nicht zu erwähnen, dass man dir dort übel mitgespielt hat. Ich habe das Heft genommen, die erste Seite aufgeschlagen und mir meine Zeit am städtischen Theater in Erinnerung gerufen. Dass man mir dort übel mitgespielt hat, ist eine Tatsache. Besonders hervorgetan hat sich diesbezüglich die Frau des Direktors, ich habe ihre blecherne Stimme noch heute im Ohr.     “Béla kann nicht länger den Hamlet spielen, er ist viel zu alt für den Hamlet.” Dabei ist der Hamlet seit jeher meine Glanzrolle gewesen, worauf ich auch mehrmals mit Nachdruck hingewiesen habe. Das Publikum will nur mich als Hamlet, da bin ich ganz sicher.“  Aber man hat meine Einwände beiseite geschoben und mich mit einer Nebenrolle abspeisen wollen.  “Der Güldenstern gehört dir oder meinetwegen auch der Rosenkranz, du kannst es dir aussuchen.” Daraufhin habe ich das Ensemble, dem ich viele Jahre lang angehört habe, von heute auf morgen verlassen. Ich habe den  Vertrag, der mich noch für weitere drei Jahre ans Haus gebunden hätte, vor den Augen des Direktors zerrissen und ihm die Papierschnipsel vor die Füsse geworfen. In der Folge habe ich versucht, ein neues Engagement zu bekommen, von meinen Ersparnissen gelebt und mit grosser Besorgnis meinen schrumpfenden Kontostand beobachtet. Dann, eines Tages, ist mir die Annonce einer Detektei aufgefallen, die verschwiegene Mitarbeiter gesucht hat. Man hat mich zu einem unverbindlichen Gespräch eingeladen und ich habe mein Licht nicht unter den Scheffel gestellt. Unter anderem habe ich angemerkt, dass ich in der Tat verschwiegen bin wie kein zweiter und habe auf meine langjährige Bühnenerfahrung verwiesen. Damit war die erste Hürde genommen. Ein erster Belastungstest hat die allerbesten Ergebnisse gebracht, die Dame, die ich heute ganz selbstverständlich Susanna nenne, hat zufrieden genickt und mir ermutigend auf die Schulter geklopft. Stehst hoch im Blut und bist dabei aber besonders empfindsam, hat sie gesagt, ausgezeichnet. Gerade recht für unseren Stall, hat sie gesagt und für die weiteren Tests ihrem Kollegen das Feld überlassen. Ich habe mehrere, nicht allzu schwierige Übungen zu seiner grössten Zufriedenheit gelöst, kombiniert gut, arbeitet rasch und relativ sicher, hat der ältere Herr, den ich dann später als Kompagnon Susannas kennengelernt habe, gesagt und hat ihr die Testergebnisse vorgelegt. Der erste Hürde wäre damit genommen, haben die beiden schliesslich zu mir gesagt, schaut gar nicht so schlecht aus für dich, ab sofort bist du in der engeren Wahl, nun geht es nur mehr um deine körperliche Eignung. Der Herr hat mich aufgefordert, ein wenig im Zimmer auf- und abzugehen und mich dabei kritisch betrachtet. Gelöster, fester und raumgreifender Schritt, hat er gesagt und anerkennend genickt, allerdings nichts für die Kraftreiterei, ausser wir fangen bei Null an, aber dafür bist du wohl schon zu alt. Wie alt bist du eigentlich, hat die Dame gefragt, ich habe wahrheitsgetreu Auskunft gegeben und sie hat sich meine Daten sorgsam notiert. Müssten wir bei dir tatsächlich mit Null anfangen, hat sie gefragt, oder hast du nicht doch ein paar einschlägige Erfahrungen? Was meinen Sie damit, hab ich gefragt und erneut auf meine langjährige Schauspielerfahrung verwiesen, aber die Dame hat eine ungeduldige Handbewegung gemacht und mich aufgefordert, möglichst keine Ausflüchte zu machen und kurz und präzise zu antworten. Ich habe es für richtig gehalten zu schweigen. Er versteht nicht, wovon wir reden, hat der Herr gesagt und mir bedeutet, ein wenig näherzukommen. Bist du roh oder angeritten, hat er mich gefragt und dabei die Stimme ein wenig gesenkt. Ich habe meine Ratlosigkeit offen gezeigt, die Achseln gezuckt und weiter geschwiegen. Aus den Augenwinkeln habe ich die Dame beobachtet, die eifrig in ihr Notizbuch geschrieben und mich hin und wieder scharf ins Auge gefasst hat. Dann hat sie eine Kamera aus ihrer Schreibtischschublade gezogen, ich habe mich vor die weiss gekalkte Wand stellen müssen und bin mehrmals fotografiert worden. Danach hat der Herr mein Gebiss kontrollieren wollen und ich habe anfangs versucht, seiner Hand auszuweichen, was wiederum das Falscheste gewesen ist. Die Dame hat ihre Ungeduld nicht länger zügeln können, hat nach einer auf ihrem Schreibtisch liegenden Reitgerte gegriffen und mir zwei heftige Schläge versetzt. Daraufhin habe ich mich in die äusserste Ecke des Raumes geflüchtet, die Schultern hochgezogen und meine Arme schützend über den Kopf gehalten. Die Dame hat ihre Stimme erhoben und mich aufgefordert, nicht solch ein Theater zu machen, aber ich bin reglos stehengeblieben. Der Herr hat erneut zu Ruhe und Besonnenheit geraten. In der Folge ist es zu einem Streitgespräch zwischen beiden gekommen, kopfscheu, habe ich die Dame sagen hören, kopfscheu war schon der letzte, Kopfscheuheit kann alles zunichte machen, wir handeln uns nicht als Ärger ein, schicken wir ihn doch am besten gleich weg. Aber davon hat der Herr nichts hören wollen, er hat sich für mich in die Bresche geworfen und auch ich habe versucht, zu retten, was noch zu retten ist. Ich bin aus meiner Ecke herausgetreten, habe die Arme sinken lassen, die Schultern zurückgenommen und mich um einen ruhigen und gelassenen Gesichtsausdruck bemüht. Handzahm ist er ja, hat die Dame schliesslich gesagt, nachdem sie mich eine Weile beobachtet hat und war einverstanden, dass die Prüfung fortgesetzt wird. Ich habe erleichtert aufgeatmet. Der Herr ist mit ausgestreckter Hand auf mich zugekommen, hat mit beruhigenden Worten auf mich eingeredet und mir ein Stück Zucker in den Mund geschoben. Dann hat er sich gebückt und meine Sprunggelenke untersucht. Breite, flache Vorderfusswurzel, hat er gesagt und anerkennend genickt, kurzes, starkes Röhrbein, klare Sehnen, alles, wie es sein soll. Aber wir suchen doch niemanden für die Springreiterei, hat die Dame gesagt, denk einmal nicht an die Springreiterei. Die Springreiterei ist mein Steckenpferd, wie du weisst, hat der Herr gesagt und sich nicht weiter beirren lassen, ich sehe mir alle unsere Leute unter diesem Gesichtspunkt an. Dann hat er mich aufgefordert, die Schuhe auszuziehen und meine Füsse genauestens untersucht. Tadellos, hat er schliesslich gesagt, tadellose Füsse, das ist immer ein Vorteil, das kommt bei allen Einsätzen zum Tragen. Nach einer Weile habe ich meine Schuhe wieder anziehen dürfen und die beiden haben mich aufgefordert, ihnen zu folgen. Sie haben mich aus dem Haus hinaus auf einen Sandplatz geführt. Der Sandplatz ist voller Hürden gewesen und die Dame hat mich aufgefordert, die erste zu nehmen. Ich habe, wie es sich von selbst versteht, mein Bestes geben wollen und bin auch gleich drauflosgerannt. Dann habe ich es aber doch mit der Angst zu tun bekommen,  zwar noch todesmutig zum Sprung angesetzt, die Hürde aber bei weitem nicht nehmen können. Ich bin zu Boden gefallen und einen Augenblick ganz betäubt liegengeblieben. Daraufhin hat die Dame hat die Prüfung erneut abbrechen wollen. Lassen wirs, hat sie gesagt und sich schon zum Gehen gewandt, du siehst doch, er taugt nichts. Aber der Herr hat sich dafür ausgesprochen, mir noch eine letzte Chance zu geben. Er hat mich aufgefordert, den Mund möglichst weit aufzumachen und mir eine Vorrichtung zwischen die Zähne geschoben, an der ich beinahe erstickt wäre. Ich habe unwillkürliche Abwehrbewegungen gemacht, mich dann aber bald in mein Schicksal ergeben. Der Herr hat beruhigend auf mich eingeredet und meine Wange getätschelt. Ich tu dir doch nicht weh, hat er gesagt, du hast jetzt eine Trense im Maul, das ist nur anfangs ungewohnt, aber es ist notwendig, denn ich will versuchen, dich an die Kandare zu nehmen. Ich habe mich also um allergrösste Folgsamkeit bemüht  und wir haben den Platz mehrmals überquert, erst in langsamer Gangart, dann im Trab und schliesslich sogar im Galopp. Die Dame hat jede meiner Bewegungen genau beobachtet und sich Notizen gemacht. Überanstrenge ihn nicht, hat sie nach einer Weile gerufen, wir dürfen uns nichts mehr zuschulden kommen lassen, du weisst, dass wir diesbezüglich auf der schwarzen Liste stehen. Der Herr hat genickt, mich zum Stehen gebracht und mir dann eine Hürde am Ende des Platzes gezeigt. Die nimmst du doch ohne weiteres, hat er gesagt, wir haben gesehen, dass du das Zeug dazu hast, also los vorwärts, spring drüber. Streng dich an, hat er gesagt, ich bin überzeugt, du kannst es. Es gibt’s nichts Ermutigenderes als ernst gemeinten Zuspruch, ich bin also quer über den Platz gerannt, habe meine Geschwindigkeit so gut wie möglich beschleunigt und die Hürde genommen, ohne sie auch nur im geringsten zu streifen. Die Dame hat zufrieden genickt, der Herr hat mir lobend auf die Schulter geklopft, mich von der Trense befreit, mir eine Decke übergeworfen und mich wieder ins Haus geführt. Die Dame hat mir einen Sitzplatz in der Ecke angewiesen und sich dann mit dem Herrn in ein angrenzendes Zimmer zurückgezogen. In der Tür hat sie sich umgedreht und mir zugelächelt. Wir beraten uns kurz, hat sie gesagt, fürs erste nur soviel: sieht gar nicht schlecht aus für dich. Dann hat sie die Tür hinter sich geschlossen und ich habe mich ein wenig ungesehen, habe die bis an die Decke reichenden Aktenschränke betrachtet und mich gefragt, mit welchen Fällen sich eine Detektei wie diese wohl befasst und welche man mir wohl zuteilen würde. Die Beratung der beiden hat in der Tat nicht allzu lange gedauert, als sich die Tür wieder geöffnet hat und die Dame mit strahlendem Lächeln auf mich zugekommen ist, habe ich erleichtert aufgeatmet. Sie hat mich als neuen Mitarbeiter der Detektei willkommen geheissen, mir herzlich die Hand geschüttelt und mir endlich zu trinken gegeben. Du hast dich gegen eine ganze Reihe von Mitbewerbern durchgesetzt, hat der Herr gesagt, gratuliere. Wir hoffen auf eine gedeihliche Zusammenarbeit, hat die Dame gesagt, an uns werden Tag für Tag die schwierigsten Aufgaben herangetragen, wir brauchen jemanden, der in tadelloser körperlicher Verfassung ist, aber auch jemanden mit Sensibilität und unkonventionellen Ideen und vor allem aber brauchen wir jemanden, der hin und wieder bereit ist, seine physische Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen. Das alles hoffen wir in dir gefunden zu haben, hat der Herr gesagt, wir hoffen  ein neues Rassepferd für unseren Stall gefunden zu haben, hat er gesagt und gelacht. In der Folge habe ich eine harte Lehrzeit auf mich nehmen müssen. Anfangs habe ich die Inkassoleute bei ihren Einsätzen unterstützt, dann säumige Zahler mit Nachdruck an ihre Verpflichtungen erinnert und schliesslich eigenverantwortlich Observationen durchgeführt. Mein Verhältnis zu den Kollegen ist von Anfang an nicht konfliktfrei gewesen, ihre hemdsärmelige, vierschrötige Art ist mir fremd geblieben bis heute. Zu allem Überfluss waren sie von Beginn weg eifersüchtig auf meine Sonderstellung und haben das auch mehrmals bei den wöchentlichen Dienstbesprechungen aufs Tapet gebracht, aber weder die Chefin noch ihr Kompagnon haben sich diesbezüglich in die Karten schauen lassen. Wir haben Béla für besonders heikle Aufgaben vorgesehen, hat die Chefin auf Beschwerden meiner Kollegen stets geantwortet und mit dieser Erklärung haben sie sich bescheiden müssen. Meine Stellung in der Kollegenschaft ist besonders am Anfang eine schwierige gewesen. Unsere Chefin hat ein Auge auf Béla geworfen, habe ich die Kollegen mehr als einmal zueinander sagen hören, sie haben nach Kräften gegen mich intrigiert und versucht, mir zu schaden. Nur Thea, neben der Chefin die einzige Frau in der Abteilung, hat sich manchmal zu Freundlichkeiten mir gegenüber hinreissen lassen. Aber eines Tages ist ihr Schreibtisch leer geblieben und auf meine Frage nach ihrem Verbleib hat man nur die Achseln gezuckt. Als die Chefin mich eines Tages zu sich befohlen hat und mir erlaubt hat, sie Susanna zu nennen, habe ich gewusst, dass meine Lehrzeit abgeschlossen ist. Nicht lange danach hat mir ihr Kompagnon ein Angebot gemacht, das ich anfangs abgelehnt habe. Ich möchte dich gern fester ans Haus binden, hat er gesagt, ich gehe demnächst in Pension, Susanna braucht jemanden, auf den sie sich voll und ganz verlassen kann, als Frau hat sies schwer in unserer Branche. Ich habe beteuert, dass ich sein Angebot natürlich zu schätzen weiss, aber auch meine Bedenken geltend gemacht. Tatsächlich habe ich zu diesem Zeitpunkt immer noch gehofft, früher oder später wieder als Schauspieler arbeiten zu können. Sie müssen das verstehen, hab ich zu Susannas Kompagnon gesagt, die Ermittlertätigkeit füllt mich nicht wirklich aus, ich bin eben mit Leib und Seele Schauspieler. Aber er hat bloss den Kopf geschüttelt und meine Einwände beiseite geschoben. Die Aufgaben, die an uns herangetragen werden, sind vielfältig und komplex, hat er gesagt, du warst bis jetzt nur mit Routinearbeiten befasst, unsere eigentliche Stärke liegt ganz woanders. Er hat einen Augenblick gezögert und seine Schreibtischunterlage ein wenig zurechtgerückt. Dann hat er  einen Aktenstapel nähergezogen und den zuoberst liegenden Akt vor mich hingelegt. Das wäre der erste Fall, den wir für dich vorgesehen haben, hat er gesagt, eine diffizile Sache, in der alle deine Fähigkeiten mehr als gefordert sind. Ich habe nochmals auf meinen Wunsch, früher oder später wieder als Schauspieler arbeiten zu können, verwiesen. Aber das ist es ja gerade, hat Susannas Kompagnon gesagt und seinen Ärger über meine Uneinsichtigkeit nicht länger verborgen, schauspielerische Fähigkeiten sind eine unschätzbare Hilfe, deshalb haben wir uns ja letztlich  für dich entschieden. Ich habe mir trotzdem Bedenkzeit ausgebeten. Als das Susanna zu Ohren gekommen ist, hat sie mich sogleich zur Rede gestellt. Bilde dir bloss nichts ein, hat sie gesagt, das Stadtheater hat deinen Verlust schon lange verschmerzt, du machst einen riesigen Fehler, wenn du unser Angebot ablehnst. Natürlich ist meinen Kollegen das schmeichelhafte Angebot zu Ohren gekommen, sie haben sich  zurückgesetzt gefühlt und mir in der Folge mehrere bösartige Streiche gespielt. Das war es auch, was mich letztlich dazu bewogen hat, das Angebot Susannas und ihres Kompagnons anzunehmen. Auch meine Friedfertigkeit hat Grenzen, Neid und Missgunst sind Eigenschaften, die mir aus dem Theateralltag bekannt sind und ich weiss, dass man sich gegen dergleichen energisch zur Wehr setzen muss. Die Rückkehr ins Stadttheater ist ja doch nur ein Hirngespinst, hab ich mir gesagt, Susanna hat diesbezüglich vollkommen recht, ausserdem liegen anspruchsvolle Jobs nun einmal nicht auf der Strasse, schon gar nicht für abgetakelte Schauspieler. Susanna und ihr Kompagnon haben sich über meinen Sinneswandel erfreut gezeigt und mir einen mehrseitigen Kontrakt zur Unterschrift vorgelegt. Dann hat Susanna ihre Schreibtischschublade geöffnet, ein Buch hervorgezogen und es mir mit feierlicher Miene überreicht. Hier für dich, hat sie gesagt, eines der letzten raren Exemplare unserer Fibel, es wird dir gute Dienste leisten. Und in der Tat hat mir die Fibel für den Privatdetektiv des öfteren auf die Sprünge geholfen, vieles ist nur durch die wertvollen Hinweise und praktischen Tips, die in der Fibel für den Privatdetektiv reichlich enthalten sind, doch noch zum Guten gewendet worden. Susanna hat mich auf ihre eigenhändige Widmung auf dem Deckblatt hingewiesen und mir dann die Unterlagen zu meinem ersten Fall ausgefolgt. Schon bei einer ersten flüchtigen Durchsicht haben mich die schlimmsten Vorahnungen beschlichen. Ich habe das auch Susanna und ihren Kompagnon wissen lassen, die Erfolgsaussichten sind praktisch null, hab ich gesagt und gebeten, mir doch einen anderen Fall zuzuteilen. Aber darauf ist Susanna nicht eingegangen. Ich habe auch mehrmals versucht, mir Rat bei meinen Kollegen zu holen, aber sie haben mir ihre Abneigung offen gezeigt und mir den Rücken gekehrt. Es versteht sich, dass ich mit meinen bösen Vorahnungen mehr als recht behalten habe. Das Ganze hat desaströs geendet. Es handelt sich dabei um die Sache mit Ulrich, über die ich nicht allzu viel sagen will. Obwohl ich mir die allergrösste Mühe gegeben und immer wieder die Fibel für den Privatdetektiv zu Rate gezogen habe, sind mir die Dinge schliesslich gänzlich aus dem Ruder gelaufen und haben das allerunglücklichste Ende genommen. Ulrich hat durch eine fatale Verkettung unglücklicher Umstände beide Beine verloren und fristet heute sein Leben als Bettler. Immerhin hat er einen guten Standplatz am Stadttor, jeder, der zum Domplatz möchte, muss zwangsläufig an ihm vorbei und so erzielt er an guten Tagen beträchtliche Einnahmen. Ich nehme an, dass er das Geld für zumindest eine Prothese bald erspart haben wird. Wenn man mich aus dem Krankenhaus entlässt, wird mich mein erster Weg zu ihm führen. Obwohl Ulrich selbstredend nicht das geringste mit mir zu tun haben will.  Anfangs waren meine Schuldbewusstsein und meine Gewissensbisse ihm gegenüber fast unerträglich und ich habe vergebens nach einem Weg gesucht, ihm sein Los zu erleichtern. Aber alle meine Versuche sind von Ulrich unverzüglich entlarvt und in der Folge strikt abgelehnt worden. Er hat den Kopf ostentativ weggedreht, wenn ich, wie ich es eine ganzen Weile getan habe, beim  Stadttor herumgelungert bin und versucht habe, ihn in ein Gespräch zu ziehen. Niemals hätte er auch nur die kleinste Hilfe von mir angenommen. Seit ich selbst meinen linken Fuss eingebüsst habe, sind meine Gewissensbisse ein wenig erträglicher geworden. Sobald man mich aus dem Krankenhaus entlässt, werde ich mich Ulrich erneut nähern. Vielleicht stimmt ihn meine Verstümmelung milde und veranlasst ihn, meine Gegenwart zumindest zu dulden. Was meinen Verbleib in der Detektei betrifft, so habe ich eigentlich erwartet, dass man mich nach diesem Desaster mit Schimpf und Schande davonjagt, aber Susanna hat mir wider Erwarten noch eine zweite Chance gegeben. Kein Ruhmesblatt, hat sie gesagt, als ich ihr meinen Abschlussbericht vorgelegt habe, schade, ich hätte mehr von dir erwartet. Wir haben dich doch für grosse Aufgaben vorgesehen, hat sie gesagt, du solltest dich zu unserem besten Pferd im Stall entwickeln, und jetzt das. Ich habe die Achseln gezuckt und Susanna zu verstehen gegeben, dass ich mein Möglichstes getan habe. Da war nichts zu machen, hab ich gesagt, das Ganze war aussichtslos, von vorneherein. Als publik geworden ist, dass ich mit meinem ersten eigenverantwortlichen Fall Schiffbruch erlitten habe, hat das natürlich meine Kollegen auf den Plan gerufen. Sie haben mich mit Hohn und Spott überschüttet und mir vorausgesagt, dass Susanna mich in die Inkassoabteilung versetzen wird. Ich habe dem möglichst wenig Beachtung geschenkt und bin ganz ruhig geblieben. Susanna weiss genau, dass ich in der Inkassoabteilung am falschen Platz bin und meine Talente dort gänzlich brachliegen, hab ich mir gedacht, im Inkassobereich sind meine spezifischen Fähigkeiten nicht gefragt, dort herrscht die absolute Phantasielosigkeit, das ist nichts für mich. Gib mir noch eine Chance, hab ich zu Susanna gesagt, mehrmals beteuert, mir mit der nächsten Aufgabe alle nur erdenkliche Mühe geben zu wollen und sie schliesslich  milde gestimmt.  In der Tat hat Susanna einen gewissen Langmut mir gegenüber an den Tag gelegt. Béla hat bei der Chefin einen Stein im Brett, haben die Kollegen zueinander gesagt, er kann einen Fall spektakulär in den Sand setzen und bekommt sofort den nächsten übertragen. Tatsächlich hat sie mich eines Morgens in ihr Büro befohlen und mir einen Herrn mittleren Alters vorgestellt. Dieser Herr hat einen spezielles Problem, für das du genau der richtige Mann bist, hat sie gesagt und mir ermunternd zugenickt. Der Herr hat mich von oben bis unten gemustert, zufrieden genickt und mich gefragt, ob ich  die Kunst liebe, speziell die Malerei. Ich habe es für richtig gehalten, mich uninformiert zu geben. „Kommt drauf an.“ „Mögen Sie Bilder?“ Ich habe die Achseln gezuckt.  „Manchmal.“ Ich habe es für richtig gehalten, mich weiter wortkarg zu geben, aber meinen Notizblock gezückt. “Worum geht’s?” “Es geht um einen Fälscher, dem das Handwerk gelegt werden muss. Unbedingt. So bald wie möglich.“ Susanna  hat sich Notizen gemacht und mich auffordernd angeschaut. “Das ist doch die ideale Aufgabe für dich, etwas Anspruchsvolles, etwas Künstlerisches, da bist du doch in deinem Element.“  Der Mann hat sich vorgebeugt, eine Weile in seiner Aktentasche gekramt und dann einen Bildband hervorgezogen. Er hat ihn aufgeschlagen und auf ein Bild gewiesen. „Sehen Sie das? Ich habe eine Unsumme dafür bezahlt und eine Fälschung bekommen.“   Kein Problem, hab ich gesagt, wir legen dem Fälscher das Handwerk und bringen ihn hinter Gitter, wenn Sie das wünschen. Der Herr hat eifrig genickt. Ja unbedingt hinter Gitter, hat er gesagt, der ganze Kunstmarkt ist schon in Unordnung. Sie halten das Delikt doch nicht für zu geringfügig, hat er gleich darauf besorgt gefragt, mein Anwalt hat mich diesbezüglich gewarnt. Ich will nicht, dass er bloss mit einer Geldstrafe davonkommt, ich möchte, dass er ein paar Jahre im Gefängnis schmort. Überhaupt kein Problem, hab ich gesagt, überlassen Sie alles uns, wir werden Sie bestens bedienen. Solchen Subjekten muss das Handwerk gelegt werden, hat mein neuer Auftraggeber gesagt, sonst ist über kurz oder lang der Kunstmarkt ruiniert. Sind ausser Ihnen noch andere Kunstliebhaber zu Schaden gekommen, hab ich gefragt und eifrig in mein Notizbuch geschrieben. Der Herr hat die Achseln gezuckt und einen Augenblick gezögert. Keine Ahnung, hat er gesagt, aber die Frau, seine Komplizin, muss auch einen Denkzettel kriegen, die hat mir die Bilder angedreht, das ist ein abgefeimtes Luder, wie es im Buche steht. Susanna und ich haben unserem neuen Auftraggeber versichert, dass wir unser Möglichstes tun werden und ihn mit unseren Honorarforderungen bekanntgemacht. Er war mit allem einverstanden, obwohl unsere Honorarsätze nicht von schlechten Eltern sind, wollte aber eine Erfolgsgarantie. Die geben wir nicht, hat Susanna gesagt, wir arbeiten hier in einem sensiblen zwischenmenschlichen Bereich, eine Erfolgsgarantie gibt Ihnen kein seriöses Unternehmen. Aber wir tun unser Möglichstes, wie gesagt. Der Herr hat sich seufzend gefügt. Wann können Sie anfangen, hat er mich gefragt und den Bildband wieder zugeklappt, und wann, meinen Sie, haben Sie den Fälscher dann auch tatsächlich dingfest gemacht? Ich habe die Stirn gerunzelt und in meinem Notizbuch geblättert. Nie auf einen fixen Termin festlegen lassen, das ist eine Grundregel, die mir Susanna und ihr Kompagnon vom ersten Tag an eingebleut haben. Ich habe meinem neuen Auftraggeber also bedeutet, dass ich mit Voraussagen vorsichtig sein muss, aber natürlich grösstmögliche Eile an den Tag legen werde. Susanna hat mir einen anerkennenden Blick zugeworfen. Kommen Sie morgen zu mir, hat mein neuer Auftraggeber gesagt, Sie wollen die gefälschten Bilder doch sicher sehen, ich habe auch selbst schon einige Nachforschungen angestellt, auf die Sie aufbauen können, das wird Ihnen die Sache erleichtern. Dann hat er sich zum Gehen gewandt, aber Susanna hat ihn zurückgehalten. Ein Drittel des Honorars bei Auftragserteilung, hat sie gesagt, zwei Drittel nach Erledigung, ich nehme auch einen Scheck. Der Herr hat genickt, sein Scheckheft gezogen, die Summe grosszügig aufgerundet und Susanna hat den Scheck sorgsam in ihrer Schreibtischschublade verwahrt. Wir haben uns alle die Hand geschüttelt, dann hat der Herr sich verabschiedet, ich wollte ihm folgen, aber Susanna hat mich zurückgehalten. Sobald wir allein waren, hat sie mir auseinandergesetzt, dass der Fall komplizierter ist, als es den Anschein hat. Damit du klar siehst, hat sie gesagt, der sorgt sich nicht um den Kunstmarkt, der will sich bloss rächen. Ich habe die Fibel für den Privatdetektiv aus meiner Jackentasche gezogen und das entsprechende Kapitel nachgelesen. Susanna hat mich mit Wohlgefallen beobachtet. Zuerst observieren, dann einen tragfähigen Kontakt aufbauen, hat sie gesagt und mir jede Unterstützung ihrerseits in Aussicht gestellt. Falls du Ratschläge brauchst, wende dich jederzeit an mich, hat sie gesagt und mich mit aufmunternden Worten entlassen. Gleich am nächsten Tag habe ich meinen neuen Auftraggeber in seiner Wohnung aufgesucht und mir die gefälschten Bilder zeigen lassen. Er hat mich in sein Wohnzimmer geführt und auf ein unauffälliges, quadratisches Bild gewiesen.  „Sehen Sie genau hin.“ Er hat eine Lampe über dem Bild eingeschaltet und mich auffordernd angeschaut. “Fällt Ihnen was auf?” “Die Blautöne stimmen nicht, das sieht auch ein Laie. Bei Franz Marc wird man niemals einen solches Blau finden.“ Mein Auftraggeber hat zufrieden genickt, einen Kunstband aus dem Buchregal gezogen und ihn aufgeschlagen vor mich hingelegt. Mit Kunstbänden kenne ich mich aus, ich besitze selber eine ganze Reihe davon, habe das Bild an der Wand mit der Reproduktion verglichen und den Kopf geschüttelt. “Reproduktionen nützen nicht viel, man müsste schon das Original gesehen haben.“ Ich habe die Bildunterschrift gelesen und mich gefragt, wieso er sich derart hereinlegen hat lassen. “Sie haben eigentlich wissen müssen, dass das nur eine Fälschung sein kann. Das Original hängt doch im Museum of Modern Arts in New York.” Er hat die Achseln gezuckt, den Bildband zugeklappt und wieder ins Regal gestellt. Ich habe nicht lockergelassen und weitergefragt. “Haben Sie viel dafür bezahlt?” Er hat genickt und die Lampe über dem Bild wieder ausgeschaltet. “Wieviel?” Er hat, nach einigem Zögern, eine Summe genannt, die mich doch einigermassen erstaunt hat. Dann habe ich ihm auf den Kopf zugesagt, dass er gewissermassen ein betrogener Betrüger ist und an seinem Gesichtsausdruck ablesen können, dass ich recht habe. “Sie haben gedacht, dass das Bild gestohlen ist und dass Sie es deswegen so unter der Hand angeboten kriegen, hab ich recht?” Er hat eine Schublade geöffnet, einen kleinen Besen genommen und den Bilderrahmen vom Staub befreit. “Aber warum haben Sie sich nicht vergewissert, ob es tatsächlich gestohlen ist, Sie hätten nur in Erfahrung bringen müssen, ob das Original noch im Museum hängt, das wäre doch ganz einfach gewesen?” Er hat die Achseln gezuckt und mir ein verstocktes Gesicht gezeigt.  „Der ganze Kunstmarkt ist schon in Unordnung.“ Meine neugierigen Fragen haben ihm schwer zu schaffen gemacht, aber ich habe ihn aufgefordert, rückhaltlos ehrlich zu sein. “Sonst kann ich nicht arbeiten. Was ist nun tatsächlich Ihr Anliegen? Wollen Sie dem Maler einen Denkzettel verpassen oder geht es Ihnen tatsächlich um den Kunstmarkt?“ Mein neuer Auftraggeber hat ein Augenblick gezögert, sich dann aber einen Ruck gegeben und den Kopf geschüttelt. „Der Kunstmarkt ist mir egal. Aber der Fälscher muss einen Denkzettel kriegen. Und die Frau auch. Die vor allem.“  Er hat mir einen raschen Blick zugeworfen, aber ich habe einen gleichmütigen Gesichtsausdruck an den Tag gelegt und an die Ermahnungen Susannas und ihres Kompagnons gedacht. Nie eine Gefühlsregung zeigen, Zustimmung signalisieren, niedrige Motive als das Selbstverständlichste hinnehmen, Verständnis vortäuschen, das macht den Erfolg unseres Unternehmens aus, hat Susanna mir immer wieder eingebleut, Rachsucht, Neid und Eifersucht bringen das meiste Geld. Wir haben eine Marktlücke entdeckt, aber die Konkurrenz schläft nicht. Ich habe mich meinem Auftraggeber zugewandt und mein Notizbuch gezückt.  „Erzählen Sie mir mehr von der Frau. Erzählen Sie mir überhaupt alles, was Ihnen wichtig erscheint“ Das hat er sich nicht zweimal sagen lassen und ich habe, während er mir seinen misslungenen Rachefeldzug in allen Details geschildert hat, mehr als einmal ein Lächeln unterdrücken müssen. Seine Versuche, sich auf eigene Faust zu rächen, sind allesamt schiefgegangen. Hat einfach nicht geklappt, hat er gesagt, das abgefeimte Luder hat den Braten jedesmal gerochen. Der Maler ist ein gutmütiger Tölpel, den kann ein Kind überlisten, aber sie ist mit allen Wassern gewaschen. Er hat mir einen nachdenklichen Blick zugeworfen und sich ein wenig vorgeneigt. Eine Bekannte hat euch empfohlen, hat er gesagt, die habt ihr bestens bedient, sie hat alles gekriegt, das Haus und das Geld und die Kinder, das hat eure Chefin höchstpersönlich auf das eleganteste gelöst, wissen Sie von dem Fall? Selbstverständlich weiss ich davon, hab ich gesagt, wir halten uns gegenseitig immer auf dem Laufenden, in diesem speziellen Fall bin ich Susanna sogar mehrere Male zur Hand gegangen, das Positionieren und Bedienen der Kamera war eine heikle Sache, hat aber positive Ergebnisse gebracht, wie Sie wissen. Und das macht eurer Chefin nichts aus, hat mein neuer Auftraggeber gesagt und sich noch weiter zu mir geneigt, wenn sie da die eigene Haut gewissermassen zu Markte trägt? Geht sie da nicht zu weit, hat er gefragt, natürlich ist der Kunde König, aber es stellt sich doch die Frage, wo man die Grenze zieht. Ich habe geschwiegen, denn an uns alle ist Susannas ausdrückliche Anweisung ergangen, auf derartige Fragen nicht oder ausweichend zu antworten. Das sind sozusagen Firmengeheimnisse, hat sie uns eingebleut, dergleichen diskutiert man nicht mit Kunden, antwortet auf derartige Fragen gar nicht oder ausweichend. Aber mein neuer Auftraggeber hat nicht lockergelassen. Oder sehe ich das zu eng, hat er nochmals gefragt, ist euch eure physische Unversehrtheit tatsächlich nicht weiter wichtig? Von Ihnen hat sie als ihrem besten Pferd im Stall gesprochen hat er gesagt und sich neugierig vorgeneigt, sind Sie das wirklich? Ihr bestes Pferd im Stall? Ich habe mich in eines der gefälschten Bilder vertieft, dann meine Fibel für den Privatdetektiv aus der Jackentasche gezogen, das entsprechende Kapitel nachgelesen und meinem neuen Auftraggeber damit zu verstehen gegeben, dass ich nicht gewillt bin, unsere Arbeitsmethoden mit ihm zu diskutieren. Tatsächlich bin auch ich eine Weile der Meinung gewesen, dass Susanna in manchen Fälle zu weit geht, sicher muss der Kontrahent der Untreue überführt werden, hab ich gesagt, denn nur dann wird er schuldig geschieden und unsere Klientin kann ihre Forderungen durchsetzen. Ich habe Susanna vorgeschlagen, sich professioneller Hilfe zu bedienen. Hol dir eine aus dem Bahnhofsviertel, bezahl sie gut und verpflichte sie zum Stillschweigen, hab ich gesagt. Susanna hat meinen Vorschlag erwogen, sich dann aber dagegen entschieden. Ich machs selber, hat sie gesagt, das ist immer noch das Sicherste. Und der Erfolg hat ihr letztendlich ja auch recht gegeben. Ich habe die Fibel für den Privatdetektiv zugeklappt und mich wieder meinem Auftraggeber zugewandt. Wenn man einen Auftrag annimmt, verschreibt man sich ihm mit Haut und Haaren, hab ich abschliessend zu ihm gesagt und bin aufgestanden, das ist uns allen in Fleisch und Blut übergegangen, und Susanna bildet da keine Ausnahme, obwohl sie als Chefin es sich leicht machen könnte. Aber das tut Susanna nicht, ganz im Gegenteil, die wirklich heiklen Fälle behält sie sich oft selbst vor. Dass sie sich damit die Hochachtung von uns allen sichert, versteht sich von selbst. Ausserdem basiert alles auf absoluter Freiwilligkeit, hab ich gesagt und die Fibel für den Privatdetektiv in meiner Jackentasche verstaut. Mein Auftraggeber hat mich mit neu erwachtem Interesse angesehen und einen beiläufigen Ton angeschlagen. Werden Sie auch eine Kamera verwenden, hat er gefragt,  und wird es dann einen Film geben, den Sie mir vorlegen? Ich würde zu gern sehen, wie der Maler vorgeht, hat er gesagt, welche Tricks er anwendet, wie schnell oder wie langsam er arbeitet, was meinen Sie, lässt sich das einrichten? Wir werden sehen, hab ich gesagt, geben Sie mir ein wenig Zeit. Wir haben wöchentliche Zusammenkünfte in Susannas Kanzlei vereinbart, Sie werden selbstverständlich auf dem Laufenden gehalten, hab ich gesagt und mich zum Gehen gewandt. An der Tür hat mir mein Auftraggeber noch einen dicken gelben Umschlag mit der Aufschrift “Tizian” überreicht.  “Da steht alles drinnen, was ich über unseren Mann herausgefunden habe.“ Ich habe das Kuvert betrachtet und mich über den Namen gewundert. “Heisst er etwa Tizian?” “Nein, aber in Fachkreisen nennt man ihn so und er hört es nicht ungern.“ Zu Hause habe ich mir den Inhalt des gelben Kuverts vorgenommen, alles sorgfältig studiert und eine erste Strategie entwickelt. Schon nach einer Woche ist es mir gelungen, Tizians Bekanntschaft zu machen und bald danach habe ich meinem Auftraggeber melden können, dass Tizian gänzlich arglos ist. “Ausserdem hat er eine Schaffenskrise. Er malt nicht mehr. Dass jemand ihn wegen der Bilder verfolgt, die er vor Jahren gemalt hat, daran denkt er nicht einmal im Traum.“ Aber mein Auftraggeber hat nur eine wegwerfende Handbewegung gemacht.  „Das ist mir egal. Er muss hinter Gitter, egal wie. Und die Frau muss auch einen Denkzettel kriegen.“ Tizian hat es mir tatsächlich ganz einfach gemacht. Im Handumdrehen habe ich ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufgebaut, und habe, um ihn aus der Reserve zu locken, das Gespräch immer wieder auf Maler, Bilder, Maltechniken und ähnliches gebracht. Als er mir eines Tages gestanden hat, dass ihm Franz Marc im Traum erscheint, habe ich das als grossen Fortschritt gewertet. Ich habe diesen Tag in meinem Kalender mit grüner Farbe markiert. Im Traum sagt mir Franz Marc ganz deutlich, dass ich seine Bilder nicht mehr fälschen soll, hat Tizian gesagt, und wenn ich aufwache, habe ich seine Stimme noch im Ohr. Er hat eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt und mir bedeutet, dass ich näherkommen soll. Er hat mir etwas ins Ohr geflüstert, was ich nicht verstanden habe. Nochmals Tizian, hab ich gesagt, ich habs nicht verstanden. Daraufhin hat er seinen Mund ganz nahe an mein Ohr gebracht. Weil ich doch sein Wiedergänger bin, hat er geflüstert. Ich habe meine Unkenntnis hinter einem verständigen Gesichtsausdruck verborgen und daheim im Lexikon unter „Wiedergänger“ nachgeschlagen. Tizian hat sich in der Folge immer enger an mich angeschlossen und mir schliesslich rückhaltlos vertraut. Weil du mich verstehst, hat er gesagt, im Gegensatz zu Lene. Ich habe diesen ersten Erfolg Susanna gemeldet, sie ist voll des Lobes gewesen und hat mir einen ihrer Vorträge über die Grundsätze der Firma gehalten. Ich habe ihr ein aufmerksames Gesicht gezeigt, bin aber nicht bei der Sache gewesen und habe meine Gedanken schweifen lassen.           

2
Blaugrau

 

Dass ich mit einiger Sorge in die Zukunft blicke, versteht sich von selbst. Der Chirurg hat mir denselben Rat gegeben wie Susanna. Schreiben Sie sich alles von der Seele, hat er gesagt, das wird sich wohltätig auswirken,  Sie werden sehen. Seinen scheinbar scherzhaften Vorschlägen kann ich allerdings nicht allzu viel abgewinnen und seine Anspielungen auf meine zwei tadellosen Nieren und meine hervorragenden Leberwerte kosten mich viel Nervenkraft. Immer wieder unternimmt er einen neuerlichen Vorstoss. „Ich habe Patienten, die würden für eine Niere ein Vermögen zahlen, wie wärs? Gilt im übrigen auch für ein Stück Ihrer Leber.“ Natürlich lehne ich nicht rundweg ab, denn ich will mir den Chirurgen auf keinen Fall zum Feind machen. Ausserdem verstehe ich seinen Standpunkt. Er hat nun einmal eine Reihe von wohlhabenden Patienten, die er gern zufriedenstellen möchte.  „Wir könntens in einem Aufwaschen machen, und Sie wären ein reicher Mann, überlegen Sie sichs.“ Dass ich, wenn ich aus der Narkose erwache, nur ja keine Narbe im Bauchbereich entdecken muss, hab ich letzthin scherzhalber zu ihm gesagt, das würde mich tatsächlich ernsthaft böse machen. Aber er hat gelacht und mein zimmer eilends verlassen. Betrachtet man die Sache unvoreingenommen, hat sein Vorschlag ja auch einiges für sich, zumindest  würde er mich aller finanziellen Sorgen entheben. Dann können Sie sich eine erstklassige Prothese kaufen, hat der Chirurg letzthin zu bedenken gegeben und einen Blick auf meinen Beinstumpf geworfen. Nur eine erstklassige Prothese sichert Ihnen die nötige Bewegungsfreiheit, hat er gesagt, alles andere ist Flickwerk und notdürftiger Behelf, glauben Sie mir, ich weiss, wovon ich rede. Wird Ihre Chefin Ihnen den verlorenen Fuss in irgendeiner Weise abgelten, zahlt sie Ihnen ein Schmerzensgeld, hat er gefragt und ich habe den Kopf geschüttelt. Von Susanna habe ich diesbezüglich nichts zu erwarten, ich bin verunstaltet, für den Rest meiner Tage verstümmelt, oder wie nennst du das, wenn jemandem der rechte Fuss fehlt, hab ich gleich anfangs zu Susanna gesagt, aber sie hat nichts von Schmerzensgeld und dergleichen hören wollen. Warum soll ich für etwas zahlen, was du dir im Übereifer selbst eingehandelt hast, hat sie gesagt und die Arme vor der Brust verschränkt, ich bezahle ohnehin deine neue, oder besser gesagt alte Nase, was denn noch alles? Aber ich gebe nicht so rasch klein bei. Erst kürzlich habe ich einen neuerlichen Vorstoss unternommen, indem ich mich angelegentlich nach Tizian erkundigt habe. Susanna  hat mir einen misstrauischen Blick zugeworfen und abwehrend den Kopf geschüttelt.   “Wieso fragst du? Du weisst so gut wie ich, dass er im Gefängnis sitzt.“ Dann hat sie zu einem durchsichtigen Manöver gegriffen, und von den interessanten Fällen zu reden begonnen, die man  an sie heranträgt, aber ich habe kaum zugehört, sondern nach einem der Bildbände gelangt, die auf meinem Nachttisch liegen. Erst durch Tizian habe ich begonnen, mich ernsthaft mit Franz Marc auseinanderzusetzen und mittlerweile ist er mir von allen Malern der liebste. Wenn ich von Tizian träume, was des öfteren vorkommt, sehe ich ihn in seiner Gefängniszelle sitzen. Meistens sitzt er einfach nur da, manchmal aber zerschneidet er sich aber seine Unterarme mit einem schartigen Küchenmesser. Dann wache ich schweissgebadet auf und kann lange nicht mehr einschlafen. Ich habe das auch schon Susanna gegenüber erwähnt, sie hat aber bloss ein Achselzucken dafür übrig gehabt.   „Unser Auftraggeber ist zufriedengestellt. Das ist es, was zählt.“ Ich habe Susanna bereits mehrfach auseinandergesetzt, dass ich Tizian gern sobald wie möglich wieder in Freiheit sähe, bin aber jedesmal auf taube Ohren gestossen. „Tizians Fall ist Schnee von gestern. Vergiss es, ich rühre diesbezüglich keinen Finger.“ Aber so schnell habe ich mich nicht mundtot machen lassen. Letztlich verdankt er es uns, dass er im Gefängnis sitzt, wir müssen ihm helfen, ich darf dich daran erinnern, dass er gänzlich unschuldig ist.“   Aber Susanna hat abgewunken. “Unsinn. Ich will nichts mehr davon hören. Er büsst für seine Verbrechen” “Er hat keine Verbrechen begangen, das weisst du so gut wie ich.” Die Sachlage ist tatsächlich komplizierter, als es den Anschein hat. Das übermässige Rachebedürfnis meines Auftraggebers hat uns letztlich zu drastischen Massnahmen gezwungen, die auch ein Mensch ohne ethische Grundsätze nicht so ohne weiteres gutheissen kann. Du hast von allem Anfang an gewusst, worum es bei uns geht, sagt Susanna, sooft ich die Rede darauf bringe.  Zehn Jahre sind durchaus nicht zu viel für einen Totschlag, sagt sie und unterschlägt dabei ein entscheidendes Detail. Neulich habe ich Susanna sogar gedroht, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, aber sie hat mir bloss einen ungläubigen Blick zugeworfen.  „Du wirst doch deinen Kollegen nicht ans Messer liefern.“ Bruno übersteht alles, auch einen Gefängnisaufenthalt, hab ich gesagt, aber Susanna hat den Kopf geschüttelt und in der Folge versucht, meine Gedanken auf andere Dinge zu lenken. Du hast jetzt an wichtigere Dinge zu denken, hat sie gesagt, du musst dir überlegen, wie du wieder richtig Fuss fassen willst. Dabei hat sie scheel auf meinen Beinstumpf geschaut. Erst als sie bemerkt hat, dass es mir mit Tizian ernst ist, hat sie die Idee mit der Weihnachtsamnestie aufs Tapet gebracht.    “Eventuell könnte er wegen tadelloser Führung begnadigt werden. Das ist durchaus denkbar.” Ich war sehr angetan von Susannas Idee und habe sie aufgefordert, sofort alles in die Wege zu leiten. “Wie wirst du vorgehen?“ “Ich werde dem Gefängnisdirektor schreiben” Ich habe den Kopf geschüttelt und Susanna aufgetragen, mir bei ihrem nächsten Besuch Briefpapier mitzubringen. “Ich werde dem Gefängnisdirektor selbst schreiben, ich kenne ihn schliesslich persönlich. Ich werde ihm schreiben und ihn bitten, sich für Tizian einzusetzen” Susanna hat angelegentlich aus dem Fenster geschaut und mir so zu verstehen gegeben, dass ihr meine Hartnäckigkeit schwer zu schaffen macht. Wir haben eine Weile geschwiegen, und als sie schliesslich aufgestanden ist, um zu gehen, hat sie einen ihrer Trümpfe ausgespielt. Einer, der einen Fall nach dem anderen in den Sand setzt, sollte hinterher keine grossspurigen Ideen entwickeln, hat sie gesagt und genau gewusst, dass sie mir Unrecht tut. Mag sein, dass meine Bilanz keine allzu erfolgreiche ist, aber im Fall Tizian und auch in meinem bislang letzten Fall ist schliesslich alles nach den Wünschen unserer Auftraggeber abgelaufen, sie haben letztlich bekommen, was sie wollten. Du begehst immer ein und denselben Fehler, hat Susanna gesagt und eine resignierte Handbewegung gemacht, du bindest dich emotional, das ist das Dümmste, was man tun kann, emotionale Bindungen müssen strikt vermieden werden, das ist eine Grundregel in unserer Branche. Steht mehrfach in der Fibel für den Privatdetektiv, hat sie gesagt, du scheinst sie nicht wirklich aufmerksam gelesen zu haben. Ich habe den Kopf geschüttelt und ihr energisch widersprochen. Ich habe sie aufmerksam gelesen, hab ich gesagt, sogar mehrmals, stellenweise kann ich sie sogar auswendig. Aber Susanna hat bloss die Achseln gezuckt und sich zum Gehen gewandt. Als sie an der Tür war, habe ich sie nochmals an das Briefpapier erinnert. „Vergiss es nicht, ich will dem Gefängnisdirektor selbst schreiben.“  Ich habe mir die Zeit mit Tizian wieder ins Gedächtnis gerufen, mich an seine Arglosigkeit erinnert und dass ich an einen Erfolg lange Zeit gar nicht geglaubt habe. Er malt nicht mehr, habe ich zu Susanna und meinem Auftraggeber mehrmals gesagt, wie soll ich ihn da als Bilderfälscher enttarnen? Aber Susanna hat mir zu verstehen gegeben, dass es höchst unprofessionell ist, die Flinte so schnell ins Korn zu werfen und hat mir eine Reihe von alten Dossiers zu lesen gegeben. Orientiere dich an deinen erfolgreichen Vorgängern, hat sie gesagt, lass dir was einfallen, dein Einfallsreichtum ist gefragt. Tizian war über die Massen vertrauensselig, hat im Handumdrehen mit mir Freundschaft geschlossen und ist gerne mit mir ins Museum gegangen. Ich gehe sonst immer allein, hat er gesagt, Lene begleitet mich nie, sie langweilt sich im Museum. Interessiert sie sich denn nicht für Malerei, hab ich gefragt, wofür interessiert sie sich dann? Für meine Malerkollegen, hat Tizian gesagt und den Kopf hängen lassen, vor allem für Brand, der lässt sie zu sich kommen, damit sie ihm Modell steht, hat er gesagt und die Hände gerungen. Ich habe Tizian aufgefordert, mir mehr von Lene zu erzählen und er hat sich das nicht zweimal sagen lassen. Was ich male, interessiert sie kein bisschen, hat er gesagt, es interessiert sie nur dann, wenn es eine Fälschung ist und sie das Bild unter der Hand zu weit überhöhten Preisen verkaufen kann. Ich habe mir alsbald ein ungefähres Bild von Lene gemacht, auch mein Auftraggeber hat mir einige Informationen zukommen lassen, grässliche Person, hat er in seine Aufzeichnungen geschrieben, arbeitet als Malermodell, ist rothaarig, aufgedonnert und nicht mehr die Jüngste. Muss unbedingt einen Denkzettel kriegen, hat er an den Rand der Seite geschrieben. Ich habe ihm meine diesbezüglichen Bedenken nicht verhehlt. Kein Gericht wird Lene zu einer unbedingten Gefängnisstrafe verurteilen, hab ich gesagt, wenn das Verkaufen von gefälschten Bildern ihr einziges Vergehen ist, gibt es höchstens eine bedingte Verurteilung oder eine Geldstrafe. Na dafür habe ich Sie ja schliesslich engagiert, hat mein Auftraggeber gesagt, lassen Sie sich was einfallen. Wo ist denn deine Lene, hab ich Tizian gefragt, ist sie verreist oder was? Aber er hat mir ein betrübtes Gesicht gezeigt und den Kopf in die Hände gestützt. Sie hat keine Zeit für mich, hat er gesagt, sie sitzt Brand, Brand arbeitet an einem Monumentalgemälde, Leda mit dem Schwan, Lene ist die Leda und sie sitzt ihm von morgens bis abends. Jedermann will Lene malen, hat er gesagt, aber sie geht am liebsten zu Brand. Ist sie nun deine Freundin oder nicht, hab ich ihn eines Tages gefragt, als er wieder einmal vergeblich auf sie gewartet hat, wenn sie deine Freundin ist, darfst du dir nicht alles gefallen lassen, da musst du sie härter anfassen. Aber Tizian hat bloss den Kopf geschüttelt und eines der Bilder in seiner Wohnung, die allesamt Lene zeigen, geradegerückt. Sie will, dass ich mein Maltalent nütze und Bilder fälsche, hat er gesagt, aber das kann ich doch nicht. Nicht mehr, hat er gesagt, Franz Marc hats mir verboten. Als ich darauf gedrängt habe, Lene kennenzulernen, war Tizian kurzzeitig misstrauisch. Wieso willst du sie kennenlernen, hat er gefragt, was willst du denn von ihr? Nichts, gar nichts, hab ich gesagt und tatsächlich ist sie uns ein paar Tage später zufällig auf der Strasse begegnet. Obwohl sie sichtlich in Eile gewesen ist, hat Tizian sich ihr todesmutig in den Weg gestellt und sie gefragt, wohin sie geht. Etwa schon wieder zu Brand, hat er gesagt, du weisst doch, dass ich das nicht leiden kann. Lene hat eine abwehrende Handbewegung gemacht, Tizian beiseiteschieben und ihren Weg fortsetzen wollen, aber dann ist ihr Blick auf mich gefallen und sie ist stehengeblieben. Wer ist denn das schon wieder, hat sie Tizian gefragt und mich einer genauen Musterung unterzogen, wieso hängst du dich an wildfremde Leute, habe ich dir nicht eingeschärft, dass man Fremden gegenüber misstrauisch sein muss? Tizian hat eilfertig geantwortet und ich habe einen möglichst harmlosen Gesichtsausdruck an den Tag gelegt.  „Aus dem Museum, wir kennen uns aus dem Museum, Béla geht auch oft ins Museum, am liebsten in die ägyptische Abteilung, so wie ich.“ Lene hat angeödet die Brauen hochgezogen und mich ab diesem Zeitpunkt für einen harmlosen Trottel gehalten. Ihre Instinkte haben sie in Bezug auf mich völlig im Stich gelassen, ich habe mich später oft darüber gewundert. Natürlich habe ich mich so unbedarft wie möglich  gegeben und eine möglichst unverfängliche Atmosphäre geschaffen, sodass Lene mich bald als ihren Vertrauten betrachtet und mir ihren Kummer über Tizian anvertraut hat. Es ist nicht auszuhalten mit ihm, hat sie gesagt, er ist eifersüchtig, wenn ich als Modell arbeite, rührt aber seinerseits den Pinsel nicht mehr an. In Klee und Franz Marc wäre er absolut perfekt, hat sie gesagt, wir könnten in Saus und Braus leben, wenn er nur wollte. In der Folge hat sie gebeten, meinen Einfluss auf Tizian geltend zu machen. Man muss ihm Zeit lassen, hab ich gesagt, er ist blockiert, da hilft nur behutsames Vorgehen, wenn man grob mit ihm ist, verschreckt man ihn nur. Naturgemäss hat Lene davon nichts hören wollen. Er geht mir masslos auf die Nerven mit seinem sensiblen Getue, hat sie gesagt und eine wegwerfende Handbewegung gemacht, und dieses Gefasel über Blockaden kann ich schon gar nicht mehr hören, er soll einfach den Pinsel nehmen und malen, Blockade hin oder her. Ich habe den Kopf über soviel Unverständnis geschüttelt, Lene über das Wesen einer Blockade belehrt und zu mehr Geduld geraten. Man muss Tizian Zeit lassen, hab ich gesagt, man darf ihn in keiner Weise bedrängen und nur hin und wieder auf Bilder, auf Maltechniken und ähnliches zu sprechen kommen. Man muss ihn in völliger Sicherheit wiegen.

 

3
Grau

 

 

Geht ein Ermittler behutsam vor, bleibt er unter Umständen wochenlang erfolglos. Dies darf ihn keinesfalls  mutlos machen. Diese Sätze stehen schwarz auf weiss in meiner Fibel für den Privatdetektiv und haben mir in den folgenden Wochen oftmals den Rücken gestärkt. Mein Auftraggeber hat nach einiger Zeit seine Ungeduld offen gezeigt. Susanna hat mich vordergründig zwar verteidigt, mir hinterher aber doch Vorwürfe gemacht. Ich habe sie gebeten, mir die wöchentlichen Zusammenkünfte mit meinem Auftraggeber bis auf weiteres zu erlassen, wöchentliche Zusammenkünfte müssen nicht sein, hab ich gesagt, nicht in diesem frühen Stadium, andere geben sich auch mit schriftlichen Berichten zufrieden, sag ihm, dass ich jede Woche einen schriftlichen Bericht abliefern kann, mach ihm klar, dass wöchentliche Zusammenkünfte in diesem Stadium nur Zeitverschwendung sind. Aber davon hat Susanna nichts hören wollen. Der Kunde ist König, hat sie gesagt, wenn er wöchentliche Zusammenkünfte wünscht, ermöglichen wir das, ausserdem bin ich ohnehin die ganze Zeit anwesend. Aber Susannas Anwesenheit war ist wenig hilfreich gewesen, meistens hat sie geschwiegen, hin und wieder in ihr Notizbuch geschrieben und mich gegen die Angriffe unseres Auftraggebers nur halbherzig verteidigt. Ich habe es als Wink des Schicksals betrachtet, dass mir Lene nach einem dieser unerfreulichen Gespräche zufällig über den Weg gelaufen ist. Ich bin stehengeblieben, um ein wenig mit ihr zu plaudern, aber sie war unwirsch und sichtlich in Eile. Ich hab keine Zeit, hat sie gesagt, ihr natürlich habt alle Zeit der Welt, aber nicht jeder kann den ganzen Tag herumlungern und sich auf seine Blockaden ausreden. Ich habe die Sprache umgehend auf Tizian gebracht und ihr mitgeteilt, dass ich seinetwegen besorgt bin. Du solltest dich mehr um ihn kümmern, hab ich gesagt, wahrscheinlich gehst du auch jetzt wieder zu Brand, Tizian kränkt sich deswegen, man kann es kaum mitansehen. Lene hat die Achseln gezuckt und eine wegwerfende Handbewegung gemacht.   „Na wenn schon. Kränkt er sich eben. Ich bin auf dem Weg in die Volkshochschule, wenn dus genau wissen willst. Aktzeichnen für Fortgeschrittene. Fängt in zehn Minuten an. Ich muss pünktlich sein.“ Damit hat sie mir den Wind aus den Segeln genommen, also bin ich zur Seite getreten und habe ihr den Weg freigegeben. Aber sie hat gezögert, hat an ihrer viel zu weit ausgeschnittenen Bluse herumgezupft und mir vertraulich die Hand auf den Arm gelegt. Lene trägt an jedem ihrer dicklichen Finger einen grossen unechten Ring, sogar Tizian beklagt sich manchmal über ihr mangelndes Stilgefühl und ich habe versucht, ihre Hand abzuschütteln. Dann siehst du Tizian heute wohl nicht mehr, hab ich gefragt und meinen Arm versteift, abends wollten wir nämlich ins Kino, Tizian und ich. Er möchte den neuen Dokumentarfilm über diese sensationell grosse Pinguinkolonie auf dem Südpol sehen. Dann habe ich ganz beiläufig ein paar Schritte zur Seite getan, sodass Lene ihre Hand von meinem Arm hat nehmen müssen. Recht viel Vergnügen, hat sie gesagt, wieso müssen es eigentlich immer todlangweilige Tierfilme sein, geht doch zur Abwechslung in einen normalen Film, das würde euch guttun. Der verächtliche Tonfall in ihrer Stimme war unüberhörbar, aber ich habe meine harmlose Miene weiter beibehalten und  die Achseln gezuckt. Tizian sieht  Tierfilme eben am liebsten, hab ich gesagt, das weisst du doch, andere Filme interessieren ihn nicht. Lene hat sich achselzuckend zum Gehen gewandt, ist dann aber nochmals stehengeblieben, hat ihre Augen zu schmalen Schlitzen verengt und mich auf das Unangenehmste fixiert. Du hängst andauernd wie eine Klette an ihm, hat sie gesagt, das ist ja nicht normal, was versprichst du dir davon? Auf derartige Fragen war ich natürlich vorbereitet. Seelenverwandtschaft, hab ich gesagt und einen vertraulichen Ton angeschlagen, ausserdem ist Tizian in  künstlerischen Dingen eine absolute Kapazität, ich bemerke das jedesmal, wenn wir gemeinsam ins Museum gehen, er kennt jedes einzelne Exponat in der ägyptischen Abteilung, das soll ihm erst einmal jemand nachmachen. Lene hat die Augen verdreht und einen verächtlichen Laut von sich gegeben. Aha, hat sie gesagt, Seelenverwandtschaft, dann ist natürlich alles klar, aber darf ich fragen, wovon du eigentlich deine Miete zahlst? So muss man mir nicht kommen. Ich habe meine verbindliche Miene abgelegt und Lene bedeutet, dass sie sich darüber keine Gedanken machen muss. Ich bezahle sie, hab ich gesagt, sogar pünktlich, im übrigen versäumst du deinen Kurs, wenn du dich nicht beeilst. Weil sie keine passende Antwort parat gehabt hat, hat sie mir einen verächtlichen Blick zugeworfen und sich grusslos zum Gehen gewandt. Auf dem Nachhauseweg habe ich endlich eine praktikable Idee bezüglich Tizians Blockade gehabt. Damit wird sie sich lösen lassen, hab ich mir gedacht und mich zu meinem Einfall beglückwünscht. Ich habe umgehend die nötigen Vorbereitungen getroffen und an einem der nächsten Abende Tizian mit in meine Wohnung genommen. Die Staffelei in der Mitte des Wohnzimmers und das halbfertige Bild waren unübersehbar, aber Tizian hat nur einen flüchtigen Blick dafür übrig gehabt und gefragt, ob er das Fernsehgerät einschalten darf. “Welcher ist der Kanal mit den Tierfilmen?“  Also habe ich mich zu Tizian auf das Sofa gesetzt und eine endlose Geschichte über ein von seiner Mutter verlassenes Tigerbaby verfolgt, dann einen einstündigen Bericht aus einer Paviankolonie und zuguterletzt eine halbdokumentarische Sendung über die Wüstenspringmaus. Ich habe mich tödlich gelangweilt, Tizian aber war gut gelaunt wie schon lange nicht mehr und ich habe es für diesen Abend dabei bewenden lassen. Zwei Abende später bin ich erneut in die Offensive gegangen. Ich habe Tizian wieder mit zu mir in die Wohnung genommen und habe ihn vor die Staffelei geführt, auf der das halbfertige Bild gestanden ist. Was hältst du davon, hab ich gefragt, über sowas rümpfst du doch bloss die Nase, oder? Was sind die ganzen Linien und Zahlen da drauf, hat Tizian gefragt, was soll das? Das ist Malen nach Zahlen, hab ich gesagt, auf diese Weise kann auch der Untalentierteste ein Bild malen. Tizian hat das Bild skeptisch beäugt und ich habe weit ausgeholt und ihm vom Bastelgeschäft meiner Tante erzählt. Hat sie mir alles vererbt, hab ich gesagt, das Geschäft hat floriert, eine ganze Weile hat jeder nach Zahlen gemalt, das war der absolute Renner, du suchst dir einen Karton aus, das aufgedruckte Motiv muss dich ansprechen, versteht sich,  im Karton findest du eine Farbpalette, alle Farben, Pinsel verschiedener Stärken und einen bedrucktes Blatt mit Zahlen. Jeder Zahl ist eine Farbe zugeordnet und wenn du alles richtig machst und auf die vorgegebenen Linien achtest, hast du in kürzester Zeit ein tadelloses Bild. Ich habe Tizian mit in den Keller genommen und ihm meine ererbten Schätze gezeigt. Soviele Kartons, hat Tizian beeindruckt gesagt, aber die Luft hier unten ist viel zu feucht, merkst du das nicht? Über kurz oder lang wird alles verrottet sein, wie lang hast du die Kartons da gelagert? Seit dem Tod meiner Tante, hab ich gesagt, vier Jahre, nein fünf. Tizian hat begonnen, die Kartons zu zählen, aber ich habe ihn unterbrochen. Es sind etwa dreihundert, hab ich gesagt, eine ganze Reihe habe ich schon ausgemalt, das verkürzt mir meine einsamen Abende. Tizian hat mir einen amüsierten Blick zugeworfen. Malen lernst du auf diese Weise aber auch nicht, hat er gesagt, das ist dir hoffentlich klar. Aber es macht mir Spass, hab ich gesagt, ausserdem gebietet es die Pietät, meine Tante war kinderlos und ich ihr absoluter Lieblingsneffe, sie hätte mir ihr gut eingeführtes und gewinnträchtiges Bastelgeschäft übertragen, wenn ich auch nur das geringste Interesse gezeigt hätte. Dann habe ich ein paar Kartons aus dem bis zu Decke reichenden Stapel gezogen. “Provencelandschaft oder Frühstück im Grünen? Was gefällt dir besser?”  Tizian ist wählerisch gewesen, hat lange überlegt, beides verworfen, und statt dessen einen röhrenden Hirsch in der Abendsonne und eine Mona Lisa ausgesucht. Im Wohnzimmer habe ich das halbfertige Mohnfeld beiseitegestellt, den neuen Karton geöffnet, meinen Malerkittel angezogen, die kleinen Farbtöpfchen in der richtigen Reihenfolge geordnet  und das Blatt mit den vorgedruckten Zahlen auf die Staffelei gestellt. Dann habe ich zu malen begonnen. Ich räume ein, dass man mein Vorgehen ohne weiteres ein wenig plump hätte nennen können. Wenn es schiefgeht, verweise ich darauf, dass man mich unter Druck gesetzt hat und ich die Dinge vorantreiben wollte, hab ich mir gedacht und eifrig gemalt. Tizian  hat meine Malversuche amüsiert verfolgt, weil die vielen Brauntöne, obwohl numeriert, nur schwer auseinanderzuhalten waren, hat meine Hervorbringung dem Bild auf dem Umschlag nur sehr entfernt geglichen. Tizian hat den Kopf geschüttelt und mir einen ratlosen Blick zugeworfen. “Und sowas macht dir Spass?” Dann hat er die Hand nach meinem Pinsel ausgestreckt. “Lässt du mich’s übermalen?” Ich habe es aber für richtig gehalten, Tizian ein wenig zappeln zu lassen und habe den Pinsel nicht sofort aus der Hand gegeben, sondern noch ein paar Verbesserungen an meiner Mona Lisa angebracht. Um ihren stechenden Blick ein wenig zu mildern, habe ich die sonderbar gelbbraune Farbe, die laut Anweisung für ihre Augen vorgeschrieben war, durch ein sattes Dunkelbraun ersetzt. Schliesslich habe ich den Pinsel zögernd an Tizian weitergereicht. Äusserlich war ich vollkommen ruhig, obwohl mir die Bedeutung des Augenblicks bewusst war. Lene wird meinen Erfolg anerkennen müssen, hab ich mir gesagt, immerhin war ich es, der Tizian dazu gebracht hat, wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Lene kommt ohnehin heute abend hierher, hat Tizian gesagt und hingebungsvoll an der Mona Lisa gearbeitet, sie wird Augen machen, wenn sie mich malen sieht. Die Farben sind gar nicht schlecht, hat er nach einer Weile gesagt, aber sehr knapp bemessen, du hast beinahe alles Braun verbraucht. Als es geläutet hat, hat er erwartungsvoll den Kopf gehoben. Das ist Lene, hat er gesagt, sie wird es gar nicht glauben können. Ich habe ihr die Tür geöffnet, sie war in Eile wie immer und hat an mir vorbei ins Wohnzimmer stürmen wollen, aber ich habe sie am Arm festgehalten. Tizian malt wieder, hab ich gesagt, das erste Mal seit Monaten hat er wieder einen Pinsel in die Hand genommen, das ist ein grosser Moment, benimm dich bitte nicht wie ein Elefant im Porzellanladen. Wir haben uns Tizian auf Zehenspitzen genähert, aber er hat uns trotzdem gehört und den Pinsel sinken lassen. Ich male wieder, hat er gesagt und Lene ein freudenstrahlendes Gesicht gezeigt, aber es nichts Besonderes, bloss Malen nach Zahlen. Lene hat die herumliegenden Maluntensilien inspiziert und die Stirn gerunzelt, wie hast du ihn dazu gebracht, hat sie mich gefragt und einen scheelen Blick auf das halbfertige Bild geworfen. Tizian war ein wenig verlegen und hat das Bild mit seinem Körper verdecken wollen, aber sie hat ihn beiseitegezogen, das Bild eine Weile mit halboffenem Mund betrachtet und sich schliesslich zu mir gewandt. „Was soll das?“ In der Tat wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, hab ich mir gedacht und sie aufgefordert, einen Augenblick mit mir in die Küche zu kommen. Sie hat sich gesträubt, aber ich habe sie am Arm gepackt und mit mir gezogen. Ich habe die Küchentür geschlossen und ihr bedeutet, dass sie sich hinsetzen soll. Ich weiss schon, hat sie gesagt, ich bin wieder einmal nicht sensibel genug, aber was soll das Ganze, vielleicht erklärt mir das einer. Ich habe mich um einen ruhigen Tonfall bemüht und ihr auseinandergesetzt, worum es im Augenblick eigentlich geht.   „Begreifst du denn nicht? Hauptsache, Tizian nimmt wieder einen Pinsel in die Hand, das ist im Moment das Allerwichtigste, alles Andere kommt später.“ Aber Lene hat bloss die Achseln gezuckt und eine verächtliche Grimasse gezogen. Na schön, Tizian malt wieder,  hat sie gesagt, aber was malt er? Eine Mona Lisa aus dem Bastelgeschäft. Das sind doch Spielereien, für die sich kein Mensch interessiert. Er soll endlich tun, was er so gut kann wie kein anderer und Bilder von Klee und Franz Marc fälschen. Damit lässt sich Geld verdienen, nicht mit kindischen Spielereien. Sie hat sich immer mehr in Rage geredet, ist schliesslich aufgesprungen und türenschlagend aus der Wohnung gerannt. Tizian ist ihr ins Stiegenhaus nachgelaufen und hat sie festhalten wollen. Aber sie hat nach ihm geschlagen und sich losgerissen. Ich will ja nur wissen, wo du hingehst, hat Tizian gesagt und sich erneut an den Riemen ihrer Handtasche geklammert.   „Zu Brands Atelierfest. Du bist auch eingeladen.“ Dann hat sie sich endgültig losgerissen und ist die Stiege hinuntergelaufen. Ich habe Tizian aufgefordert, doch auch zu Brands Atelierfest zu gehen, aber er hat bloss den Kopf geschüttelt und den Vorschlag weit von sich gewiesen. Tizian schätzt gesellige Zusammenkünfte nicht, wenn man ihn zur Teilnahme zwingt, pflegt er düster in einer Ecke zu stehen, jeden, der ihm ein alkoholisches Getränk aufnötigen will, mit verächtlichen Blicken zu messen, und bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht zu ergreifen. Nie und nimmer gehe ich zu Brands Atelierfest, hat er gesagt, du weisst doch, was ich von Atelierfesten halte. Dann ist er aber doch noch zum Fenster gerannt und hat sich gefährlich weit hinausgebeugt, um einen letzten Blick auf Lene werfen zu können. Nach einer Weile ist er mit hängendem Kopf zur Staffelei zurückgekehrt und hat sein Bild ohne Enthusiasmus fertiggemalt. Ich habe es eingehend betrachtet und meisterhaft gefunden, aber natürlich wäre es das Falscheste gewesen, Tizian für seine Malkünste zu loben. Statt dessen habe ich die Sprache auf Lene gebracht. „Sie beträgt sich skandalös, du musst ihr zeigen, wer der Herr im Haus ist.“ Aber davon hat Tizian nichts hören wollen und als ich nicht lockergelassen habe, hat er Lene rührenderweise verteidigt. Sie ist enttäuscht von mir, hat er gesagt, und das ist nur zu verständlich. Ich könnte viel Geld verdienen, hat er gesagt, sie versteht nicht, warum ich mich weigere. Ich habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt und behutsam versucht, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken. Vielleicht versuchst dus einmal mit eigenen Bildern, es müssen ja nicht unbedingt Fälschungen sein, hab ich gesagt, aber Tizian hat den Kopf geschüttelt. Das mit den eigenen Bildern klappt nicht, hat er gesagt, das habe ich schon viele Male probiert, bisher habe ich nur ein einziges Bild verkauft, aber das zählt nicht, da habe ich Lene gemalt, nackt und möglichst naturalistisch, sowas lässt sich immer verkaufen. Na dann machst du eben damit weiter, hab ich gesagt, Lene wird wohl nichts dagegen haben. Ich will nicht, dass meine Bilder von Lene in den Schlafzimmern von allen möglichen Leuten hängen, hat Tizian gesagt und energisch den Kopf geschüttelt, schlimm genug, dass sie sich von jedermann malen lässt. Er hat sich das Haar aus der Stirn gestrichen und mit einem Mal sehr müde ausgesehen, also habe ich das Gespräch auf andere Dinge gelenkt und ihn aufgefordert, sich die Mona Lisa nochmals vorzunehmen. Er hat noch aber nur noch ein wenig am Hintergrund gearbeitet und dann das Bild für fertig erklärt. Ich habe ihm einen Hammer und Reissnägel gegeben und den Karton an meine Wohnzimmerwand genagelt. In der Folge hat sich herausgestellt, dass meine vielversprechende Idee mit den Malkartons meiner Tante eine Sackgasse war. Immerhin war Tizian jederzeit bereit, sich mit mir in Gaststätten, Galerien und Kinos zu treffen und hat mich mehrmals pro Woche in meiner Wohnung besucht. Ich habe den einmal eingeschlagenen Weg natürlich weiterverfolgt und im Lauf der Zeit van Goghs Sonnenblumen, Gauguins Südseemädchen, ein Mohnfeld in der Morgensonne und die  Schlacht von Lissa nach Zahlen gemalt. Tizian hat milde gelächelt über meine Obsession, meine Bilder verbessert, wenn meine Malversuche gänzlich unbefriedigend waren, hat er den Karton umgedreht, alles neu gemalt und das fertige Bild an die Wand genagelt. Auf meinen Vorschlag, es doch zur Abwechslung mit einem richtigen Bild zu versuchen, ist er nicht eingegangen. Ich besorge alles, Leinwand und Farben und Pinsel, hab ich gesagt, aber Tizian hat bloss den Kopf geschüttelt. Das da reicht mir völlig, hat er gesagt, und auf die herumliegenden Kartons gewiesen, das macht manchmal sogar richtig Spass. Dass die wöchentlichen Unterredungen mit unserem Auftraggeber zunehmend unerfreulich verlaufen sind, war unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich. Sie behaupten zwar, dass Tizian nicht länger blockiert ist und bereits wieder malt, hat er gesagt, aber wo sind die Ergebnisse, ausserdem möchte ich ihn selber malen sehen, wir haben das vertraglich vereinbart. Ich habe meinen Auftraggeber vergeblich aufgefordert, sich noch eine Weile zu gedulden, Sie haben nichts davon, wenn Sie Tizian zusehen, hab ich gesagt, nicht in diesem Stadium, aber er hat nicht lockergelassen. Also habe ich ihn eines Abends in meinem Schlafzimmer versteckt, Tizian wird sich heute die Schlacht von Lissa vornehmen, hab ich gesagt, wenn er Sie hier findet, ist sein Vertrauen in mich ruiniert, verhalten Sie sich also bitte gänzlich ruhig. Leider war Tizian ausgerechnet an diesem Abend in deprimiertester Stimmung, bereits im Vorzimmer hat er mir mitgeteilt, dass Lene schon drei Tage und vor allem Nächte weggeblieben ist, ich habe kein Auge zugetan, hat er gesagt, ich will heute nicht malen, aber vielleicht könnten wir fernsehen?  Tatsächlich hat er den Karton mit der Schlacht von Lissa keinen Blickes gewürdigt, sich auf mein Sofa fallen lassen, und mich gebeten, sein Lieblingsprogramm einzuschalten. In der Folge haben wir das tragische Sterben eines alten Elefantenbullen verfolgt, dann eine Dokumentation über das Leben der Polarbären auf den ständig kleiner werdenden Polkappen und einen Bericht über die Züchtung alter Hausschweinrassen. Es versteht sich, dass ich die ganze Zeit wie auf Nadeln gesessen bin. Mein Auftraggeber hat im Schlafzimmer ausharren müssen, bis Tizian endlich nach Hause gegangen ist und war über die Massen wütend, als ich ihn endlich aus meinem Schlafzimmer befreit habe. Er hat gedroht, sich bei Susanna beschweren zu wollen. Meinen Hinweis, dass erste Erfolge bereits zu verzeichnen sind, hat er mit einer verächtlichen Handbewegung abgetan. Alles was Sie hier an meiner Wohnzimmerwand sehen, stammt doch von Tizian, hab ich gesagt, da sind durchaus eigenständige Arbeiten darunter, sehen Sie dieses Frühstück im Grünen. Läppische Spielereien, hat mein Auftraggeber gesagt, ich werde meine Zahlungen bis auf weiteres einstellen. Dein Auftraggeber zahlt nicht mehr, hat Susanna schon ein paar Tage später zu mir gesagt, das geht nicht, ich kalkuliere knapp und brauche das Geld, lass dir was einfallen. Ausserdem hat er sich über dich beschwert, er hat den Eindruck, dass du es an Ernsthaftigkeit fehlen lässt, ja, er hält es sogar für möglich, dass du dich insgeheim über ihn lustig machst. Du hättest ihn nicht in deinem Schlafzimmer verstecken sollen, hat Susanna gesagt, das hat er dir übelgenommen. Aber er selbst wollte Tizian unbedingt malen sehen, hab ich gesagt, was hätte ich machen sollen. Susanna hat ein Weile nachgedacht und mir dann vorgeschlagen, eine Kamera zu verwenden. Vielleicht lässt sich dein Tizian filmen, hat sie gesagt, wieso probierst dus nicht mit einer Kamera, da kommt man ohne grossen Aufwand zu den schönsten Ergebnissen. Ich war skeptisch, habe Susannas Rat aber trotzdem beherzigt, und Tizian gegenüber vorgegeben, mir mit meiner neuen Kamera einen langgehegten Wunsch erfüllt zu haben. Damit kein  Misstrauen aufkommt, habe ihn auf unseren Spaziergängen gefilmt, habe seine und meine Wohnung gefilmt und ein paarmal sogar Lene, wobei sich Tizians Miene aber immer verdüstert hat. Sobald ich seine Malversuche filmen wollte, ist Tizian erstarrt, hat den Pinsel weggelegt und für den Rest des Abends nicht mehr angerührt. Ich habe Susanna von diesen Fehlschlägen in Kenntnis gesetzt und sie war so ratlos wie ich. Nach einer unserer fruchtlosen Unterredungen, unser Auftraggeber droht bereits damit, sich an eine andere Detektei zu wenden, dann sind wir unten durch in der Branche, hat Susanna gesagt, bin ich niedergeschlagen nach Hause gegangen und habe mich, was ich sonst tagsüber nie tue, vor das Fernsehgerät gesetzt. Dass ich an einen Bericht über Blinde und wie ihnen mit Hilfe von Implantaten geholfen wird, geraten bin, war ein Wink des Himmels. Durch den Bericht habe ich mich an einen Zeitungsartikel, der ebenfalls über Implantate berichtet hat, erinnert. Ich bin zum Altpapiercontainer gegangen und habe nach einigem Stöbern die betreffende Zeitung auch tatsächlich wiedergefunden. Ich habe den Artikel ausgeschnitten und gleich am nächsten Tag Susanna meine Idee vorgetragen. Eine winzigkleine Kamera, unter die Augenbraue gepflanzt, das ist tatsächlich ein interessanter Ansatz, hat sie gesagt, den Zeitungsartikel mehrmals gelesen und meine Idee nicht gänzlich verworfen. Begreifst du das Neue, Bahnbrechende, hab ich gesagt, damit könnte ich vollkommen ungestört Tizians Malversuche festhalten, er würde sich nicht beobachtet fühlen und gänzlich unbefangen agieren. Susanna hat überaus interessiert zugehört, genickt und mich schärfer ins Auge gefasst.    „Das erfordert einen Klinikaufenthalt und bringt beträchtliche Schmerzen mit sich, hast du auch daran gedacht?“  Ich habe die Achseln gezuckt, die Fibel für den Privatdetektiv aus der Tasche gezogen und die entsprechende Seite aufgeschlagen. Hier bitte, Seite siebzehn, hab ich gesagt, hier steht es schwarz auf weiss. Dem erfolgreichen Ermittler hat die Lösung des jeweiligen Falls über alles zu gehen, der Einsatz muss hundertprozentig sein, der Wunsch nach physischer Unversehrtheit sollte hintangestellt werden. Susanna hat mir einen anerkennenden Blick zugeworfen, ist aufgestanden, zum Schrank gegangen und hat hinter alten Akten eine Flasche Kognak hervorgezogen. Sie hat mir ein Glas eingeschenkt und den Aschenbecher in meine Nähe gerückt. Das hat mir gezeigt, dass ich sie von meiner Idee überzeugt habe. Dein Engagement freut mich, hat sie gesagt und zeigt mir, dass ich, was dich betrifft, doch auf das richtige Pferd gesetzt habe. Über kurz oder lang bist du ja doch mein bestes Pferd im Stall, hat sie gesagt und ist nähergerückt, bei unserer nächsten, wöchentlichen Zusammenkunft werden wir deine Idee unserem Auftraggeber unterbreiten, und hören, was er dazu sagt. Es versteht sich, dass unser Auftraggeber äusserst schwer von Begriff war, erst als ich ihm alles aufs Genaueste erläutern habe, hat er begriffen, worauf ich hinauswill.  “Ich habe Tizian jetzt schon so weit, dass er in meiner Gegenwart malt. Aber das allein nützt noch gar nichts. Er malt nicht immer, wie Sie ja leidvoll erfahren haben. Was kann es da Besseres geben als eine Kamera, die das Ganze sozusagen life auf Ihren Bildschirm überträgt. Sie können bequem daheim auf Ihrem Sofa sitzen und Tizian trotzdem beim Malen zusehen.” Ich habe meine Idee überzeugend vertreten und alle Einwände meines Auftraggebers entkräftet, Susanna hat ebenfalls geschickt argumentiert und ihre Beredsamkeit hat schliesslich den Ausschlag gegeben. Das ist eine Chance, die Sache auf elegante Art und Weise Ihren Wünschen gemäss zu einem Ende zu bringen, hat sie zu unserem Auftraggeber gesagt, Sie sollten Bélas Anerbieten nicht so ohne weiteres von der Hand weisen, natürlich erwachsen Ihnen Mehrkosten, aber wenn Ihr Tizian tatsächlich dingfest gemacht werden soll, sollten Sie Bélas Idee nähertreten. Susanna hat mit Engelszungen geredet, ich erinnere mich, dass mich ihr engagiertes Eintreten für meine Idee ein wenig verwundert hat. Tatsächlich hat sie unseren Auftraggeber überzeugen können und in der Folge eine Vorauszahlung verlangt. Zur Deckung der nötigen Ausgaben, hat sie gesagt. Dann hat sie die Dinge mit der nötigen Eile vorangetrieben, Kontakt mit der Klinik aufgenommen, die sie für solche Fälle bei der Hand hat, alles in die Wege geleitet und den Tag meiner Abreise festgesetzt. Am Tag vor meiner Abreise bin ich zu ihr gegangen, um mir letzte Instruktionen zu holen und habe einen fremden Herrn bei ihr vorgefunden. Er ist in der Besucherecke gesessen, hat mich interessiert gemustert und meiner Unterredung mit Susanna aufmerksam zugehört. Susanna hat alle Details meines Klinikaufenthalts auf das freimütigste zur Sprache gebracht, ich habe meine Augen angestrengt und gesehen, dass der fremde Herr mehrere Porträtaufnahmen vor sich liegen gehabt hat. Er hat sie eingehend studiert und mich zwischendurch immer wieder scharf ins Auge gefasst. Mehrfach habe ich ihn und Susanna einen Blick des Einverständnisses tauschen sehen. Wer war das, hab ich sie gefragt, nachdem der fremde Herr seine Fotos in einer Aktentasche verstaut und das Zimmer verlassen hat, wieso lässt du einen Wildfremden da sitzen und alles mithören? Aber Susanna hat lächelnd den Kopf geschüttelt und mir beruhigend die Hand auf den Arm gelegt. Reg dich nicht auf, hat sie gesagt, es hat alles seine Richtigkeit, ein neuer, äusserst vielversprechender Fall steht uns ins Haus, ich sage dir nächstens mehr. Am Tag darauf hat sie mich höchstselbst zum Bahnhof gebracht. Sie hat mir die Fahrkarte ausgehändigt und meinen zugegeben kleinen Koffer skeptisch gemustert. “Hast du auch alles, was du brauchst?“ Ich habe genickt und mich nach dem Schmerzensgeld erkundigt. Es sollte mir doch bar und im vornehinein ausbezahlt werden, hab ich gesagt, wie steht es damit? Susanna hat genickt, einen Umschlag aus ihrer Manteltasche gezogen und ihn mir ausgehändigt, in der Klinik wird man dir ein Einzelzimmer geben, hat sie gesagt, man weiss, dass du aus meinem Stall kommst, es wird für dich bestens gesorgt werden. Ich bleibe bis zur Abfahrt, hat sie gesagt, aber steig ruhig schon ein und such dir einen schönen Platz. Tatsächlich habe ich gleich einen mir zusagenden Platz im Speisewagen gefunden und Susanna durch das geschlossene Fenster bedeutet, dass sie nicht bis zur Abfahrt des Zuges warten muss. Eine mir gegenübersitzende Dame hat sich zu mir geneigt und ein Gespräch anknüpfen wollen, aber ich habe nur einsilbig geantwortet. Wenn ich mich bei Susanna über das aufdringliche Benehmen ihrer Geschlechtsgenossinen beklage, lacht sie mich aus. Du gefällst eben allen, hat sie gerade neulich gesagt, das kann dir doch nichts Neues sein, denk an deine Zeit als jugendlicher Liebhaber am Stadtheater. Ich habe mich gefragt, wann der Zug denn nun endlich abfährt und die Anwesenheit Susannas auf dem Bahnsteig als lästig empfunden. Sie hat mich nicht aus den Augen gelassen, ist auf dem Bahnsteig vor und rückwärts gegangen und hat dabei einen älteren, gebrechlichen Herrn übersehen. Der Herr war ganz offensichtlich in höchster Eile und hat an seiner Aktentasche schwer zu tragen gehabt. Er hat versucht, Susanna auszuweichen, leider hat es ihm an Behendigkeit gefehlt und Susanna hat ihn zu Fall gebracht. Sie hat dem Alten zwar wieder auf die Beine geholfen, sich dann aber nicht weiter um ihn gekümmert, obwohl er einen benommenen Eindruck gemacht hat. Er hat mühsam einen Fuss vor den anderen gesetzt und ich habe gesehen, dass sein rechtes Bein beim Sturz Schaden genommen hat. Ich habe an die Scheibe geklopft und sie gestikulierend aufgefordert, ein wenig hilfsbereiter zu sein, aber sie hat bloss die Achseln gezuckt. Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, war der Herr für einen Augenblick in ernsthafter Gefahr, dann ist aber gottlob der Schaffner herbeigeeilt und hat den alten Herrn die letzten Stufen hinaufgeschoben und ihn ins Waggoninnere gehievt. Susanna hat mir ein letztes Mal zuewunken und sich dann endlich zum Gehen gewandt.

 

4
Blau

 

'Es ist alles nach deinen Wünschen in die Wege geleitet. Heute um Mitternacht treffe ich Ulrich beim Weiher und dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Ulrich war Feuer und Flamme, ich habe ihm das abgelegene Tal hinter dem Bergrücken in den verlockendsten Farben ausgemalt, dort kann ich dich in Ruhe trainieren, hab ich gesagt, du sollst schliesslich für deinen ersten Einsatz aufs Beste präpariert sein. Ulrich hat zwar Einwendungen gemacht und die lange Wegstrecke ins Treffen geführt, den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, hat er gesagt, da sind war ja tagelang unterwegs, muss das denn sein, können wir uns nicht einfach in dieses Dorf fahren lassen, du könntest einen Wagen mit einem Transporter mieten, so wie es andere ja auch tun, und mir diese Strapaze ersparen, aber ich habe nicht mit mir reden lassen. Das erregt Aufsehen, hab ich gesagt, wir müssen wie vom Erdboden verschluckt sein, hab ich dir das nicht schon mehrmals erklärt, sonst setzt dein Besitzer Himmel und Hölle in Bewegung, um dich wieder zurückzubekommen. Daraufhin hat mir Ulrich signalisiert, dass er mit allem einverstanden ist. Ulrichs Blauäugigkeit erstaunt mich immer wieder aufs Neue, er vertraut mir vollkommen. Dies nur in aller Eile, damit du weisst, wie die Dinge stehen. Ich glaube, dass wir mit Ulrich allerbestes Material an der Hand haben, mit eisernem Training ist unter Umständen selbst ein Spitzenplatz zu erreichen. Ich lasse sobald wie möglich von mir hören.
Ich komme jetzt auf die Briefe zu sprechen. Dass sie noch immer in meinem Besitz sind, liegt mir schwer auf der Seele und wenn ich erklären soll, wie das alles gekommen ist, muss ich weit ausholen. Anfangs hat mir der alte Herr bloss leid getan, ich wollte freundlich sein und ihn Susannas Rücksichtslosigkeit vergessen lassen, dass er ausgerechnet in meinen Waggon gestiegen ist und nur neben mir noch ein Platz frei gewesen ist, war, so gesehen, eine schicksalshafte Verknüpfung. Erst daraus hat sich alles weiteres entwickelt. '

Als sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, habe ich mich zurückgelehnt und den Zettel mit dem Lageplan der Klinik aus der Tasche gezogen. Ich habe feststellen müssen, dass die Klinik weitab vom Bahnhof liegt, in der Folge den Fahrplan zu Rate gezogen und gesehen, dass ich meinen Bestimmungsort erst spät nachts erreichen werde. Hoffentlich fährt dann noch ein öffentlicher Bus, hab ich mir gedacht, meine Besorgnis aber fürs erste beiseite geschoben und den Herrn, den Susanna umgestossen hat, näherkommen sehen. Der Platz neben mir ist frei gewesen und er hat sich höflich zu mir gebeugt. “Gestatten Sie?” “Aber sicher.” Der alte Herr war sichtlich erschöpft, hat sich vorsichtig neben mir niedergelassen, seine Aktentasche festgehalten und schwer geatmet. Dann hat er seinen Mantel ausziehen wollen und mich gebeten, ihm behilflich zu sein, ich sollte nicht mehr alleine verreisen, hat er gesagt, aber seit mein Neffe nicht mehr bei mir ist, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich habe ihm also geholfen, seinen Mantel auszuziehen, Schal und Handschuhe sorgsam in die Taschen gesteckt und nach einem Haken Ausschau gehalten. Hängen Sie ihn so, dass ich ihn erreichen kann, hat er gesagt. Ich habe ihm mein Reiseziel genannt und es hat sich herausgestellt, dass wir das gleiche gehabt haben. So ein glücklicher Zufall, hat der Alte gesagt, dann darf ich Sie sicher auch bitten, mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Das versteht sich von selbst, hab ich gesagt und dabei Susannas Rücksichtslosigkeit immer vor Augen gehabt. Nach einer Weile hat der Alte seine Aktentasche geöffnet, mehrere Briefe hervorgezogen und zu lesen begonnen. Ich habe, anfangs eher aus Langeweile, dann aber zunehmend interessiert, mitgelesen. Nach einer Weile bin ich ein wenig näher gerückt, um meine Augen zu schonen.    
           

Dies in aller Eile, nur damit du weisst, wie es um mich und Ulrich steht. Wir sind plangemäss um Mitternacht aufgebrochen, allerdings ist der Zeitpunkt wegen des Schlachtfestes der allerungünstigste gewesen, es waren fremde Leute im Haus und wir haben grösste Vorsicht an den Tag legen müssen. Gottlob ist es uns gelungen, ungesehen in die Speisekammer zu gelangen, wo wir uns mit reichlich Proviant versehen haben, ausserdem habe ich einen warmen Schafspelz und eine alte Pferdedecke an mich genommen, die uns in den kalten Nächten sicher nützlich sein werden. Bis jetzt sind wir auf abgelegenen Wegen sicher vorwärts gekommen, wir meiden natürlich Ansiedlungen und Dörfer und machen sogar um einzelne Bauernhöfe einen grossen Bogen. Ich lassen Ulrich meistens frei neben mir herlaufen, ans Halfter nehme ich ihn nur, wenn wir eine  schwierige Wegstrecke zu bewältigen haben. Bis jetzt ist uns nur ein einziger Fehler unterlaufen, der allerdings gravierend gewesen ist. Noch dazu muss ich mir ganz alleine die Schuld daran geben. Ich muss es meiner Unachtsamkeit zuschreiben, dass wir viel zu nahe an ein abgelegenes Gehöft gelangt sind, das Hundegebell hätte mich warnen müssen, aber ich war unaufmerksam, bin weitergegangen und habe Ulrich sogar ein Stück vorauslaufen lassen. Unversehens sind wir an ein Gehöft gelangt, der Bauer ist, vom Hundegebell alarmiert, aus dem Haus gelaufen und hat eine Schrotflinte auf uns gerichtet. Obwohl ich Ulrich sofort am Halfter genommen und weggeführt habe, hat der Bauer die Hunde auf uns gehetzt. Ich habe mich und Ulrich eine ganze Weile erfolgreich verteidigt, als Ulrich aber trotzdem in Panik geraten ist und davonlaufen wollte, hat ihn einer der Hunde in den rechten Vorderfuss gebissen. Ich habe einen dicken Stock aufgehoben und die Hunde in die Flucht geschlagen. Dann habe ich Ulrich eilends aus der Gefahrenzone geführt die Bisswunde an seinem Bein inspiziert und sie anfangs nicht weiter bedenklich gefunden. Trotzdem habe ich es für richtig gehalten, ihn eine Weile zu schonen, habe ihn tiefer in den Wald geführt, eine Holzfällerhütte aufgebrochen und es ihm so bequem wie möglich gemacht. In den Wäldern ein geeignetes Quartier zu finden ist kein grosses Problem, immer wieder stösst man auf durchaus massiv gebaute Hütten für die Holzfäller und Jäger. Da sie immer verschlossen sind, ist es allerdings nötig, die Tür aufzubrechen. Es ist immer Holz vorbereitet, mit dem ich ein Feuer anfache, weil Ulrich leicht friert, immer findet man einen eisernen Wasserkessel, einen Brunnen vor der Tür und eine Dose Tee und Zucker im Schrank. Diesbezüglich fehlt es uns also an nichts. Unseren Proviant habe ich in fünf gleiche Teile geteilt und hoffe, damit das Auslangen zu finden. Zuunterst in meinem Rucksack habe ich eine Flasche Schnaps versteckt. Jeden Abend teile ich uns einen Schluck davon zu. Der Blick, mit dem Ulrich die Flasche fixiert, gefällt mir nicht, was  unsere Unternehmung betrifft, bin ich aber recht guter Dinge, Ulrichs Bisswunde ist nicht weiter bedenklich, wenn alles gut geht, hoffen wir, das Hochplateau übermorgen zu erreichen. Haben wir es erst einmal bis aufs Hochplateau geschafft, ist das Schlimmste vorbei, dann führt uns unser Weg nur mehr bergab, das ist ohne  weiteres zu schaffen, selbst mit einem verletzten Bein. Dass diese Gegend völlig verlassen ist und man nicht öfter als zweimal am Tag auf ein einzelnes Gehöft stösst, begünstigt unsere Unternehmung. Wir beginnen bereits, alle Vorsicht ausser Acht zu lassen und zeigen uns auch am hellichten Tag.'

Sehr bald habe ich mich zu fragen begonnen, was es mit dem Verfasser der Briefe auf sich hat. Als der alte Herr nach einer Weile die Briefe auf den Tisch gelegt und für einen Augenblick den Speisewagen verlassen hat, habe ich mich vorgeneigt und versucht, mir einen Überblick über Anzahl und Umfang zu verschaffen. Dabei hat sich die Anwesenheit der Dame mir gegenüber als äusserst hinderlich erwiesen. Allmählich habe ich bemerkt, dass ich mich alles andere als wohl fühle. Ich habe das flaue Gefühl im Magen darauf zurückgeführt, dass ich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze. Das bekommt mir grundsätzlich nicht so besonders und ein vages Schwindelgefühl hat mir zusätzlich zu schaffen gemacht. Als der alte Herr seinen Platz neben mir wieder eingenommen hat, bin ich ein wenig nähergerückt und habe nach dem Datum des Briefes gespäht. 

           4.12.

Die Schwierigkeiten häufen sich. Wenn Ulrich seinen Hundebiss versorgt, setzt er sich so, dass ich keinen Blick auf die Wunde werfen kann, zeige deine Wunde, Ulrich, hab ich letztens zu ihm gesagt, aber er hat mir nur einen misstrauischen Blick zugeworfen und seinen Sessel noch ein wenig weiter in die dunkelste Ecke unserer Hütte gerückt. Ich habe ihm schweren Herzens angeboten, die Wunde  zu Desinfektionszwecken mit ein wenig Schnaps zu begiessen, aber das wollte er nicht. Ich nehme aber gern einen zusätzlichen Schluck, hat er gesagt. Darauf bin ich natürlich nicht eingegangen. Der Schnaps muss reichen, bis wir wieder in ein Dorf kommen und die Flasche ist nur mehr zu einem Drittel voll, hab ich gesagt und sie wieder zuunterst in meinen Rucksack gesteckt. Ich bin in ernsthafter Sorge, was die geplante Trainingsarbeit betrifft. Mein Zeitplan gerät durch Ulrichs Bisswunde hoffnungslos durcheinander und ich bin durchaus nicht mehr sicher, ob wir Ulrich bereits bei den Herbstrennen einsetzen können. Kontinuierliche Aufbauarbeit braucht ihre Zeit und mit einem lädierten Vorderfuss lässt es sich nicht systematisch trainieren. Schon jetzt gestaltet sich unser Fortkommen überaus schwierig, wir steigen auf einem steinigen Pfad in immer engeren Kehren steil bergan und der anstrengendste Teil liegt noch vor uns, ich weiss nicht, wie Ulrich das mit seinem verletzten Bein schaffen will. Aber wenn ich die Sprache darauf bringe, gibt er sich unzugänglich und fordert mich auf, mich gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Heute hat er zum ersten Mal zu erkennen gegeben, dass er über seine Lage Bescheid weiss. Du willst mich trainieren, stimmts, hat er gesagt, und bei den Herbstrennen soll ich erstmals laufen, da soll ich mir die ersten Sporen verdienen und nächstes Jahr wollt ihr mich dann gross rausbringen, du siehst, ich weiss über alles Bescheid.  Aber was redest du denn da Ulrich, hab ich gesagt, kann schon sein, dass wir im Dorf ein wenig trainieren, aber doch nur zu unserem Vergnügen. Ich habe ihm auf der flachen Hand ein Stück Zucker angeboten, aber er hat den Kopf weggedreht, ist ein paar Schritte zur Seite gegangen und hat sich im Gras niedergelassen. Ich habe ihn eine Weile ausruhen lassen, als ich das Zeichen zum Aufbruch gegeben habe, ist er nur mühsam wieder auf die Beine gekommen. Er hinkt stärker denn je, ich könnte nicht sagen, dass sich die Dinge wunschgemäss entwickelt haben. Du hörst wieder von mir. 

 

5
Blaurot

 

Wie es in Krankenhäusern üblich ist, verabreicht man mir eine Reihe von Medikamenten, die die unangenehmsten Nebenwirkungen haben. Unter anderem ermüde ich rasch, die Bücher auf meinem Nachtkästchen liegen die meiste Zeit unberührt da, nur die Dossiers, die Susanna aus den Archiven für mich zusammengesucht hat, wecken hin und wieder mein Interesse. Die vergangenen Monate haben mir einiges abverlangt und meine Erschöpfung tritt erst jetzt langsam zutage. Wenn ich spektakuläre Erfolge vorzuweisen hätte, wäre meine Situation natürlich eine ganz andere, aber jedermann weiss, dass ich meinen Auftrag nur mit Mühe zu Ende gebracht habe, sogar der Chirurg, zu dem ich früher das allerbeste Verhältnis gehabt habe, hält mich neuerdings für einen Versager. Als ich meinen ersten Aufenthalt hier in der Klinik zur Sprache bringen wollte, hat er vorgegeben, sich nicht mehr erinnern zu können. Das hat mich geschmerzt, denn mir ist alles überdeutlich im Gedächtnis geblieben. Sie waren sehr angetan von meiner Idee mit der implantierten Kamera, und haben sich auf das Genaueste nach dem Fall erkundigt, den ich damit zu lösen gedenke, habe ich zum Chirurgen gesagt. Er hat den Kopf geschüttelt und mir zu verstehen gegeben, dass seine Erinnerung nicht so weit zurückreicht. Ich bin einen Tag später gekommen, weil der Zug wegen der Schneeverwehungen nicht pünktlich war, es ist dieser besonders strenge Winter gewesen, daran erinnern Sie sich doch sicher, hab ich gesagt, mir ist, als wäre das alles erst gestern gewesen. Aber der Chirurg hat sich nach ein paar Höflichkeitsfloskeln seinen Ärzten zugewandt, Eile vorgeschützt und mein Zimmer verlassen. Bis jetzt hat sich unser früheres unbeschwertes Verhältnis nicht wiederherstellen lassen. Auch mein Verhältnis zu Susanna bedürfte dringend einer Klärung. Es ist nicht nötig, dass du mich andauernd besuchst, hab ich neulich zu ihr gesagt, aber sie hat bloss die Achseln gezuckt. Solange du zu meinem Stall gehörst, besuche ich dich, hat sie gesagt, ich kenne meine Pflichten. Du siehst im übrigen ziemlich abgehalftert aus, hat sie nach einem prüfenden Blick auf mich gesagt, ich habe dir neue Dossiers mitgebracht, damit kannst du dich ablenken. Dass Susanna mich aus eigenem Antrieb mit alten Dossiers aus dem Archiv versorgt, rechne ich ihr hoch an, das ist keine Selbstverständlichkeit, denn die Dossiers lesen sich hochinteressant und sind auf keinen Fall mit herkömmliche Detektivgeschichten zu vergleichen. Herkömmliche Detektivgeschichten lege ich meist nach ein paar Seiten desinteressiert weg, was sich andere Leute aus den Fingern saugen, ist meistens blutleer und das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Ich erinnere mich nicht, dass mir eine Detektivgeschichte jemals die Langeweile vertrieben hätte. Aber in den Dossiers gibt es viel zu entdecken, es gibt unerklärliche Zufälle und Koinzidenzen, die manchmal geradezu unheimlich anmuten. Natürlich nehme ich nicht an, dass die Kollegen in jedem Fall die Wahrheit sagen, ich selbst habe es ja auch nicht getan, es ist  amüsant, die mühsam positiven Berichte der Kollegen zu lesen und genau zu wissen, dass sich hinter Sätzen wie ‚Ich komme ausgezeichnet voran‘, ‚Der Observierte wird sich demnächst verraten‘ oder ‚Die Enttarnung erfolgt in den nächsten Tagen‘  die grössten Enttäuschungen verbergen. Auch ich habe solche Sätze in meine Berichte geschrieben, manchmal mehrere Wochen hintereinander, in denen ich in Wahrheit gar nicht oder nur mühsam vorangekommen bin. Susanna ermahnt mich jedesmal, nur ja nicht sorglos mit den Dossiers umzugehen.     “Du lässt hoffentlich nichts herumliegen. Das sind alles Originale, nicht auszudenken, wenn etwas davon in unrechte Hände gerät.” Ich habe sie diesbezüglich beruhigt, denn ich verlasse mein Zimmer nur selten, und wenn man mich zu einer Untersuchung holt, lege ich die Dossiers in einen versperrbaren Wandschrank. Keine Sorge, hab ich zu Susanna gesagt, ich hüte sie wie meinen Augapfel. Ich habe sie gebeten, mir noch mehr davon zu bringen und dann auch gleich noch die Rede auf den kleinen Gefallen gebracht, den sie mir tun könnte. Könntest du nicht jemanden für mich suchen, hab ich sie gefragt, es ist eine private Sache, aber äusserst wichtig für mich. Tatsächlich habe ich das dringende Bedürfnis, den alten Herrn aus dem Zug wiederzusehen, ihm seine Briefe zurückzugeben und mich für meine Kurzschlusshandlung zu entschuldigen. Ich habe die Briefe die ganze Zeit über auf das sorgfältigste aufbewahrt und sie in eine grasgrüne Mappe getan, die ich auch hierher ins Krankenhaus mitgebracht habe. Ich habe die Mappe immer in Griffweite liegen. Wenn mir das Lesen in den Dossiers zu anstrengend ist, greife ich stets nach der grasgrünen Mappe. Mittlerweile ist es mir leichtes, die Handschrift zu entziffern, obwohl sie teilweise nahezu unleserlich ist.

Heute haben wir das letzte, steilste Stück hinter uns gebracht. Als das Hochplateau endlich erreicht war, bin ich gänzlich ausser Atem gewesen, habe ich mich auf einen grossen Stein gesetzt und Ulrich hat sich neben mir im Gras niederlassen. Nach einer Weile habe die Hand ausgestreckt und Ulrich auf die Ansiedlung im Talgrund aufmerksam gemacht. Dorthin müssen wir, hab ich gesagt, das Schlimmste haben wir hinter uns, jetzt geht es nur mehr bergab und wenn wir erst einmal an unserem Bestimmungsort angelangt sind, ruhst du dich aus und bist im Handumdrehen wieder bei Kräften. Ich habe mich zuversichtlicher gegeben, als ich tatsächlich war. Ulrichs rechtes Vorderbein ist nach wie vor angeschwollen und überaus schmerzempfindlich. Ich habe den Entschluss gefasst, Ulrich sobald wie möglich einem Arzt vorzuführen und dann das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Den Abstieg haben wir mehr schlecht als recht hinter uns gebracht und endlich, so um die Mittagszeit, die Talsohle erreicht. Wir sind querfeldein auf das Dorf zugegangen, wobei Ulrich ein paarmal vor harmlosen Spaziergängern gescheut hat. Aber ich habe ihn weiter ohne Halfter neben mir hergehen lassen, wir haben das Dorf hocherhobenen Hauptes betreten und obwohl der Kirchenvorplatz voller Menschen gewesen ist, hat sich niemand sonderlich um uns gekümmert. Ich habe uns reinliche Zimmer im Gasthof gleich hinter dem Pferdemarkt mieten wollen, aber Ulrich hat sich gesträubt und Einwendungen gemacht. Da wohnen die Rosstäuscher, hat er gesagt, die haben meinen allerbesten Freund völlig ruiniert, mit denen will ich nichts zu tun haben. Gottlob hat es im Dorf noch ein zweites Wirtshaus gegeben, das auch Ulrich zugesagt hat. Ich habe zwei Einzelzimmer mit Blick auf die Pferdekoppel verlangt und wöchentliche Bezahlung vereinbart. Während ich mit dem Wirt verhandelt habe, ist Ulrich  zur Hintertür gehinkt, hat sie aufgemacht und einen Blick auf die Stallungen geworfen. Der Wirt ist ihm mit den Blicken gefolgt, hat über Ulrichs Zustand den Kopf geschüttelt und von sich aus angeboten, für ärztliche Hilfe zu sorgen. Wir haben bei uns im Dorf hervorragende Ärzte, die wahre Wunder vollbringen, hat er gesagt, gibt man ihnen eine abgehalfterte Schindmähre in die Hände, steht sie nach kürzester Zeit als Rassepferd da, ich übertreibe nicht, nicht im geringsten. Was meinst du, Ulrich, hab ich gefragt, wollen wir einen Arzt kommen lassen und ihn deine Wunde sehen lassen? Aber Ulrich hat entschieden abgewehrt. Nein keinesfalls, hat er gesagt und sein lädiertes Vorderbein in die Höhe gehoben, das ist bloss eine kleine Schwellung, weiter nichts von Bedeutung, das heilt ganz von allein. Ich habe dem Wirt mit einer Grimasse zu verstehen gegeben, dass Ulrich selbst zu entscheiden hat und er hat uns die Schüssel zu unseren Zimmern ausgehändigt und die Achseln gezuckt. Heute will ich mich noch ein wenig ausruhen, hat Ulrich gesagt, seinen Schlüssel an sich genommen, und begonnen, mühsam Stufe für Stufe die Treppe hochzusteigen, aber ab morgen beginnen wir mit dem Training. Als der Wirt Näheres über meine Pläne mit Ulrich wissen wollte, habe ich mich nur vage geäussert und mich nach den Mahlzeiten erkundigt. Für mich das übliche, hab ich gesagt, für Ulrich aber bitte jeden Morgen eine Extraportion Kraftfutter, ich muss sehen, dass er wieder zu Kräften kommt. Dann bin auch ich auf mein Zimmer gegangen. Ich bin ziemlich mutlos, um die Wahrheit zu sagen. An ein reguläres Training ist bis auf weiteres gar nicht zu denken und damit wird es gänzlich unwahrscheinlich, dass wir Ulrich im Herbst erstmals laufen lassen können. So stehen im Augenblick die Dinge, es tut mit leid, dass ich dir nichts Besseres melden kann. Eines vielleicht noch: gehe unverzüglich aufs Postamt und lasse mir Geld anweisen. Der Postbote kommt nur einmal pro Woche hierher, daraus kannst du ersehen, wie abgelegen dieses Dorf ist. Ich habe mich bereits mit ihm bekannt gemacht und ihm unsere prekäre Lage soweit wie nötig geschildert. Er war durchaus zugänglich und wird mich nach Möglichkeit unterstützen.  
Keiner der Briefe trägt im übrigen eine Unterschrift. Im Brief vom 24. 1. findet man etwa in der Mitte der Seite drei durchgestrichene Zeilen, die naturgemäss mein Interesse geweckt haben. Ich habe schon mit den verschiedensten Methoden versucht, das Durchgestrichene wieder sichtbar zu machen, es ist mir aber nicht gelungen.          

Falls du dich über das Ausbleiben meines wöchentlichen Berichts gewundert hast: ich habe ihn ganz bewusst ausfallen lassen. Ich habe sehr anstrengende Tage hinter mir, auch heute will ich mich kurz fassen, fürs erste nur soviel: es sieht nicht gut aus. Die Woche Schonung, die ich Ulrich zugestanden habe, hat so gut wie gar nichts genützt. Gestern habe ich ihn versuchsweise auf die Weide geführt und aufzäumen wollen, aber an ein ernsthaftes Training ist nicht zu denken gewesen. Ich habe mir zwei Helfer von der Nachbarkoppel geholt und mit ihrer Hilfe ist es mir gelungen, Ulrich zu Boden zu werfen. Dann habe ich die zwei Männer ersucht, Ulrich festzuhalten und so endlich seine Wunde genau untersuchen können. Sein Bein ist nach wie vor stark geschwollen gewesen, die Wunde selbst vollkommen vereitert und äusserst druckempfindlich. Ich habe Ulrich gesagt, dass es unumgänglich notwendig ist, einen Arzt zu konsultieren, aber er hat sich rundweg geweigert. Auf keinen Fall einen Arzt, hat er gesagt, diese Rosstäuscher richten einen auf der Stelle  zugrunde, soll ich dir erzählen, wie es meinem Freund ergangen ist? Ich habe abgewunken, den beiden Männern bedeutet, dass sie Ulrich jetzt loslassen können und mit meinem Ärger über Ulrichs Halsstarrigkeit nicht hinter dem Berg gehalten. Daraufhin hat er sich immerhin bereit erklärt, eine Wunderheilerin zu konsultieren, von der ihm das Küchenmädchen aus unserem Gasthof erzählt hat. Ja, er hat sogar darauf bestanden, sie sobald wie möglich aufzusuchen, hat sich den Weg vom Küchenmädchen aufs genaueste beschreiben lassen und nicht warten wollen, bis ich ein Fuhrwerk organisiert habe. Wenn ich das nicht zu Fuss schaffe, bringst du mich am besten gleich zum Abdecker, hat er gesagt und so bald wie möglich aufbrechen wollen. Also haben wir uns am darauffolgenden Tag, ohne weitere Vorbereitungen zu treffen, auf den Weg gemacht und ich sage gleich im voraus, dass die ganze Unternehmung desaströs geendet hat. Begonnen hat es damit, dass wir uns in dem undurchdringlichen Waldgebiet, das gleich hinter dem Dorf beginnt, heillos verirrt haben. Die Wegangaben der Küchenhilfe sind die ungenauesten gewesen, ausserdem hat Ulrich seine Kräfte überschätzt, ist nur langsam vorangekommen, hat immer wieder lange Pausen einlegen müssen und mich schliesslich gebeten, eine Holzfällerhütte aufzubrechen, damit er sich ein wenig ausruhen kann. Ich habe ein Feuer im Herd angefacht, damit er nicht frieren muss, dann haben wir uns über unser weiteres Vorgehen beraten. Wir sind übereingekommen, dass es das Beste sein wird, wenn ich nochmals ins Dorf  zurückkehre, um mir den Weg zur Wunderheilerin nochmals und genauer beschreiben zu lassen. Aber auf dem Rückweg ins Dorf hat sich ein schlimmes Unwetter zusammengebraut und ich bin bis auf die Haut durchnässt in meinem  Gasthof angekommen. Der Wirt hat mir abgeraten, nochmals hinauszugehen. Es gibt nichts Gefährlicheres als diese plötzlichen Unwetter, hat er gesagt, der Wind kann weiter zunehmen, da werden die hundert Jahre alten Bäume geknickt wie die Streichhölzer, Sie begeben sich in ernsthafte Gefahr, warten Sie lieber bis morgen. Nach einigem Zögern habe ich eingesehen, dass er es nur gut mit mir meint und bin im Gasthof geblieben. Ich habe einen recht gemütlichen Abend verbracht, der Wirt hat sich zu mir gesetzt, seine Abrechnung gemacht  und mich nebenher mit kleinen Geschichten und Anekdoten unterhalten. Sie können ja auch morgen noch bleiben, hat er nach einer Weile gesagt, ist das Wetter einmal schlecht, bleibt es meist tagelang so. Ihr Schützling muss halt eine Weile für sich selber sorgen, es schadet ihm nichts, wenn er ein paar Tage auf sich gestellt ist, das regt die Selbstheilungskräfte an. Es ist dann in der Tat so gewesen, dass der Sturm mehrere Tage angehalten hat. Ich bin im Gasthof geblieben, weil ein Gang in den Wald zu gefährlich gewesen wäre. Als sich das Wetter gebessert hat, habe ich mich ohnehin unverzüglich auf den Weg gemacht und mich so gut wie möglich beeilt. Was soll ich sagen: Ulrichs Zustand war der bedenklichste. Schweratmend und mit fieberglänzenden Augen ist er in einer Ecke gelegen und hat beim Klang meiner Stimme vergeblich versucht, auf die Beine zu kommen. Ich habe mich zu ihm gebeugt und erschreckt festgestellt, dass ihm bereits Schaum vor dem Mund steht, habe mein Erschrecken aber so gut wie möglich verborgen und einen beruhigenden Ton angeschlagen. Bleib ruhig liegen, Ulrich, hab ich gesagt, ich hole umgehend Hilfe, sei gänzlich unbesorgt. Dann bin ich eilends zurück ins Dorf gelaufen und habe den Wirt gebeten, einen Karren zu organisieren. Der Wirt hat sich Ulrichs Zustand beschreiben lassen und nachdenklich den Kopf geschüttelt. Da wird nicht mehr viel zu machen sein, hat er gesagt, da verständigen wir am besten gleich den Abdecker. Ich habe, wie es sich von selbst versteht,  entsetzt abgewehrt und den Wirt nochmals gebeten, mir ein Fuhrwerk zu verschaffen. Irgendeines, hab ich gesagt, nur gross genug, damit Ulrich transportiert werden kann. Der Wirt hat Einwendungen machen wollen, aber ich habe einen energischen Ton angeschlagen und ihn nochmals gebeten, umgehend für einen Karren zu sorgen. Wie Sie wollen, hat er schliesslich gesagt, die Achseln gezuckt und mir einen schiefen Blick zugeworfen. Ich habe ihm die Lage der Hütte genauestens beschrieben und er hat versprochen, sein Möglichstes zu tun. Ich habe mich beeilt, wieder zu Ulrich zu kommen, sein Zustand ist unverändert schlecht gewesen, der Wirt kommt bald mit einem Karren, hab ich gesagt, damit bringen wir dich sicher nach Hause, sei gänzlich unbesorgt. Ulrich hat versucht, auf die Beine zu kommen und sich eine Weile vergebens angestrengt, lass nur Ulrich, hab ich schliesslich gesagt, bleib ruhig liegen, Anstrengungen sind Gift für dich. Der Wirt hat sich erst knapp vor Einbruch der Dunkelheit bei uns eingefunden, war nicht leicht, ein passendes Fuhrwerk zu organisieren, hat er gesagt, alles, was Räder hat, wird zur Ernte gebraucht. Der Transport Ulrichs war keine Kleinigkeit und weil er ausserstande gewesen wäre, die zwei Stockwerke zu seinem Zimmer hinaufzusteigen, haben wir ihn in einem Verschlag in der Nähe der Stallungen untergebracht. Dann hat der Wirt einen Arzt holen lassen. Schon nach einer ersten flüchtigen Untersuchung hat er mich für einen Augenblick hinaus ins Freie gebeten und mir eröffnet, dass nicht viel Hoffnung auf eine Genesung Ulrichs besteht. Mehr will ich heute nicht darüber schreiben. Nur eines vielleicht noch: ich habe dich in deinem letzten Bericht gebeten, mir Geld anzuweisen, aber der Postbote hat letztens nichts für mich dabeigehabt. Unsere Auslagen sind hoch, Ulrichs Krankheit verursacht einige Kosten und alles muss sofort beglichen werden. Das ist hier so Sitte. Ich ersuche dich also nochmals, unverzüglich aufs Postamt zu gehen und mir eine grössere Summe anweisen zu lassen. Es eilt. 
Wäre mein Verhältnis zum Chirurgen so gut wie es früher war, hätte ich ihn schon längst gefragt, ob meine Müdigkeit tatsächlich bloss von den Medikamenten herrührt. Weil ich ständig müde bin, passieren mir des öfteren Unachtsamkeiten, neulich habe ich während Susannas Besuch die grasgrüne Mappe offen auf meinem Nachtkästchen liegen lassen. Um ein Haar wäre sie Susanna ins Auge gefallen. Susanna legt allergrössten Wert darauf, dass alle Leute, die zu ihrem Stall gehören, keine Privatinteressen verfolgen, nur die Belange der Detektei haben für meine Leute von Interesse zu sein, sagt sie des öfteren, geht einer aus meinem Stall seinen Privatgeschäften nach, entlasse ich ihn normalerweise fristlos. Um sie von der grasgrünen Mappe auf meinem Nachtkästchen abzulenken, habe ich also zu einer Finte gegriffen und mich über den Chirurgen beklagt. Da Susannas Verhältnis zu ihm ohnehin das gespannteste ist, hat mein Trick bestens geklappt. Sie ist ganz Ohr gewesen und hat meine Klage sofort aufgegriffen. Er legt mir nahe, ihm eine Niere und ein Stück meiner Leber zu überlassen, hab ich gesagt, und bietet mir eine ansehnliche Summe, was hältst du davon? Gar nichts, hat Susanna erwartungsgemäss gesagt, du kannst dich doch nicht zur Gänze verstümmeln lassen, dass du deinen rechten Fuss verloren hast, reicht dir wohl nicht? So macht ers immer, hat sie gesagt und sich, wie erwartet, mehr und mehr in Rage geredet. Schliesslich ist sie aufgesprungen, hat angekündigt, dem Chirurgen ein für allemal ihre Meinung sagen wollen und ist wütend aus dem Zimmer gerannt. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, die grasgrüne Mappe schnell zuzuklappen und in der Schublade zu verstauen. Einer der Briefe ist dabei herausgerutscht und unters Bett gefallen. Ich habe ihn liegen lassen, bis Susanna sich verabschiedet hat, erst dann habe ich ihn unter dem Bett hervorgeholt. Es hat mich einige Mühe gekostet, weil ich sehr unbeweglich bin und mich noch nicht an meine Prothese gewöhnt habe. Ein paar Mal hätte ich beinahe das Gleichgewicht verloren, als der Brief wieder sicher in der grasgrünen Mappe gelegen ist, bin ich eine ganze Weile erschöpft auf der Bettkante gesessen. Nach einer Weile habe ich den Brief wieder hervorgezogen und an den alten Herrn aus dem Zug gedacht. Susanna muss ihn ausfindig machen, hab ich mir gedacht, sie darf es mir nicht abschlagen. Ich habe die Nachtkästchenlampe angeknipst und zu lesen begonnen.
           14.2.

Dass unsere Sache die schlimmstmögliche Wendung genommen hat, wird dich nach meinem letzten Brief wohl nicht überraschen. Vor drei Tagen habe ich Ulrich mit Hilfe des Wirts zum Abdecker gebracht. Der Abdecker war mit  Arbeit überhäuft und hat Ulrich anfangs gar nicht annehmen wollen. Aber er steht doch tadellos im Fleisch, hab ich gesagt, wiegen Sie ihn und Sie werden sehen, dass ich nicht zuviel versprochen habe. Tatsächlich hat Ulrich ein ansehnliches Gewicht auf die Waage gebracht und der Abdecker hat sich letztlich doch noch umstimmen lassen. Na schön, er kann bleiben, hat er gesagt, aber er muss warten, bis die Reihe an ihn kommt, das kann tagelang dauern, Extrawürste gibt’s keine bei mir, sehen Sie sich um, alle warten schön brav, bis die Reihe an sie kommt. In der Tat sind die behelfsmässigen Ställe bis auf den letzten Platz belegt gewesen. Ich habe den Kilopreis, den mir der Abdecker für Ulrich zahlen wollte, für weitaus zu niedrig gehalten, aber so sehen Sie doch genau hin, hab ich gesagt und Ulrichs Flanke getätschelt, keine von den Schindmähren, die man Ihnen normalerweise bringt, steht ähnlich gut im Fleisch wie Ulrich, wir haben Grosses vorgehabt mit ihm und ihn von klein auf bestens versorgt, das darf man auch jetzt nicht ausser Acht lassen. Er hat nur qualitativ hochwertiges Futter bekommen und ist stets ausreichend bewegt worden, keinesfalls dürfen Sie Ulrich mit den Kleppern vergleichen, die normalerweise zu Ihnen gebracht werden, so kommen wir nicht ins Geschäft. Letztlich hat der Abdecker mit sich reden lassen, den Kilopreis nochmals erhöht und mir die Summe auch gleich bar ausbezahlt. Ulrich hat unsere Transaktion stumm verfolgt, der Abdecker hat ihm einen Platz in einem baufälligen Schuppen zugewiesen, da können Sie ihn anbinden, hat er gesagt, es werden ein paar Tage vergehen, bis ich Zeit für ihn finde, wenn Sie möchten, dass er gefüttert wird, müssen Sie sich selbst darum kümmern, von uns bekommt er nichts mehr. Wie leid es mir tut, dass diese anfangs vielversprechende Sache so geendet hat, muss ich wohl nicht extra betonen. Ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe, auch der Wirt hat mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, Sie haben sich das alles selbst zuzuschreiben, hat er gesagt, noch vor einer Woche hätten unsere hervorragenden Ärzte Ulrich vielleicht helfen können, jetzt natürlich ist alles zu spät. Dann hat er mich auf den unsauberen Lehmboden aufmerksam gemacht, lassen Sie doch einen Strohballen für Ulrich herbeischaffen, hat er gesagt, damit er es wenigstens einigermassen bequem hat, wer weiss, wann er an die Reihe kommt, unter Umständen steht er tagelang hier. Ich habe den Wirt gebeten, seinen Einfluss beim Abdecker geltend zu machen, damit er Ulrich möglichst bald drannimmt, aber er hat mir nicht viel Hoffnung gemacht. Der Abdecker und ich sind zwar alte Freunde, hat er gesagt, aber was seine Geschäfte betrifft, da hört er auf niemanden, er ist ein reeller Mann, bei ihm geht alles seinen geregelten Gang, da gibt’s keine Protektion. Ich habe beruhigende Worte an Ulrich gerichtet und ihn an einen vorspringenden Balken gebunden. Dann habe ich ihm ein Stück Zucker geben wollen, aber er hat den Kopf weggedreht. Ist nicht bestechlich, hat der Wirt gesagt, und Rückgrat hat er auch, er nimmt nichts mehr von Ihnen, weil er Ihnen an allem die Schuld gibt. Ich habe den Wirt gebeten, mich einen Augenblick mit Ulrich allein zu lassen, habe meine Arme um Ulrichs Hals gelegt und meinen Mund an sein Ohr gebracht. Du verstehst mich doch, nicht wahr, hab ich geflüstert, du weisst doch selber am besten, dass nichts mehr zu machen ist, es ist schade, dass aus unseren grossen Plänen nichts wird, dass mir das leid tut, kannst du mir glauben. Dann habe ich meinen Kopf an Ludwigs Hals gelegt und die aufsteigenden Tränen nicht länger zurückhalten können. Als der Wirt nach einer Weile neugierig den Kopf durch die Tür gesteckt hat, habe ich mein Gesicht abgewandt und um Fassung gerungen. Sie können nur mehr eines für ihn tun und das wissen Sie auch, hat der Wirt gesagt und ist nähergekommen, tun Sie es anstelle des Abdeckers, wenn Sie mit Schlachtschussapparaten nicht so vertraut sind, will ich Ihnen gerne alles zeigen, so können Sie Ihrem Freund einen letzten Dienst erweisen. Ausgeschlossen, hab ich gesagt,  die Arme von Ulrichs Hals genommen und meine Augen mit einem Taschentuch getrocknet, das ist ganz ausgeschlossen, bei mir müsste Ulrich bloss unnötig leiden, das muss man schon den dafür ausgebildeten Leuten überlassen, für den Abdecker ist das Routine, der erledigt das aus dem Handgelenk. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht nur drücken wollen, hat der Wirt gesagt, was Sie da sagen, klingt mir verdächtig nach Ausrede, ist es nicht eher so, dass Sie bloss zu feige sind? Er muss jetzt womöglich tagelang da unter seinen Leidensgenossen herumstehen, muss zusehen, wie einer nach dem anderen ins Schlachthaus geführt wird und ergeben warten, bis die Reihe endlich an ihn kommt, das können Sie ihm nicht antun, hat er gesagt und mir einen prüfenden Blick zugeworfen. Ich habe mich erneut zu Ulrich gebeugt, ihm die Arme nochmals um den Hals gelegt und meinen Mund an sein Ohr gelegt. Aber meine Stimme hat mir nicht gehorcht, statt der beruhigenden Worte, die ich Ulrich ins Ohr flüstern wollte, ist nur ein Krächzen aus meiner Kehle gekommen. Schliesslich bin ich einen Schritt zurückgetreten, habe einen Augenblick lang nicht gewusst, was zu tun ist und bin mit hängenden Armen dagestanden, bis Ulrich den Kopf weggedreht hat. Dann habe ich mich umgewandt und den Schuppen verlassen. Vor der Hütte bin ich auf Gehilfen des Abdeckers gestossen, den ich gebeten habe, für einen Ballen Stroh zu sorgen. Damit Ulrich nicht auf der nackten Erde liegen muss, hab ich gesagt und bringen Sie ihm einmal am Tag Futter. Ich habe ihm mehrere Geldscheine gegeben und mich dann endgültig zum Gehen gewandt. Morgen verlasse ich das Dorf, eine diesbezügliche Vereinbarung mit dem Postboten ist schon getroffen, er kommt frühmorgens, bringt am Vormittag die Poststücke zu den einsam liegenden Gehöften ringsum und trifft so gegen Mittag beim Wirtshaus ein. Am frühen Nachmittag verlässt er das Dorf wieder. Er hat mir angeboten, mich auf seinem Motorrad mit hinaus ins Tal zu nehmen, sodass ich mich spätestens übermorgen bei dir einfinden werde. Bis dann.  

6
Blassrot

Der alte Herr aus dem Zug war der angenehmste Gesellschafter, den man sich denken hat können. Ich habe in Erfahrung bringen wollen, was es mit dem Briefeschreiber für eine Bewandtnis hat und mich einer empfehlenswerten Methode bedient, die ich der Fibel für den Privatdetektiv entnommen habe. Die Fibel für den privatdetektiv schlägt in solchen Fällen eine vielfach erprobte Taktik vor. Möchte der Ermittler einen bestimmten Sachverhalt verifizieren, empfiehlt es sich, Offenherzigkeit vorzutäuschen. So hält man Misstrauen hintan und wiegt sein Gegenüber in Sicherheit. Also habe ich dem alten Herrn mein eigenes Reiseziel genannt, den Namen der Klinik erwähnt und erzählt, dass ich mich dort einer Operation unterziehen werde. Die beste Klinik weit und breit, hat der alte Herr gesagt, Sie sind dort hervorragend aufgehoben, falls Sie sich Zähne implantieren lassen möchten, sind Sie dort in den allerbesten Händen. Nachdem die Dame an unserem Tisch am anderen Ende des Waggons eine Bekannte entdeckt und den Platz gewechselt hat, waren mein Reisegefährte und ich ganz plötzlich ungestört. Nach einer Weile, in der wir angeregt geplaudert haben, hat der alte Herr nach dem Kellner gerufen und sich die Speisekarte geben lassen. Als man ihm das Essen gebracht hat, hat er das Briefbündel achtlos in meine Richtung geschoben, um Platz für den Teller zu schaffen. Bestellen Sie sich denn gar nichts, hat er gefragt, es ist doch Essenszeit. Ich habe den Kopf geschüttelt. Unser Reiseziel haben wir erst kurz vor Mitternacht erreicht, weil der Zug wegen der Schneeverwehungen eine ganze Stunde auf offener Strecke gehalten hat. Mein Reisegefährte hat mir sein Wohnzimmersofa für die Nacht angeboten, aber ich habe den Kopf geschüttelt und nach einem Hotel in der Nähe gefragt. “Ich will Ihnen keine Mühe machen.” Der alte Herr hat meinen Arm genommen und seine Einladung mehrmals wiederholt.  “Seien Sie nicht störrisch, es gibt kein einziges ordentliches Hotel in dieser Stadt.” “Ich bin nicht anspruchsvoll, für eine Nacht lässt sich doch wohl irgendwas finden.” Natürlich habe ich mich nicht allzu lange widersetzt. “Wenn Sie darauf bestehen, aber Ihr Wohnzimmersofa genügt mir völlig. Auf keinen Fall dürfen sie meinethalben irgendwelche Umstände machen.” Er hat beteuert, dass er meinethalben nicht die geringsten Umstände machen wird, wir haben ein Taxi bestiegen und uns quer durch die Stadt chauffieren lassen. Als wir endlich vor seinem Haus aus dem Auto gestiegen sind, ist es schon weit nach Mitternacht gewesen. Mein Gastgeber hat mich in sein Wohnzimmer geführt, mich mit Decken und Pölstern versehen, die Aktentasche mit den Briefen neben mein Sofa gestellt und mir eine gute Nacht gewünscht. Ich war todmüde, habe aber, wie es mir des öfteren passiert,  trotzdem nicht einschlafen können. Um mir die Zeit zu vertreiben, habe ich einzelne Stellen aus den Briefen rekapituliert, mein gutes, nahezu fotografisches Gedächtnis macht dergleichen ohne weiteres möglich. Nach einer Weile habe ich den Wunsch verspürt, die eine oder andere Briefstelle nochmals nachzulesen, bin aufgestanden, habe Licht gemacht und die Aktentasche geöffnet. Das Bündel Briefe ist gleich zuoberst gelegen, ich habe einen Brief nach dem anderen entfaltet und die unklaren Stellen nachgelesen. Als ich geglaubt habe, Geräusche und Schritte vor meiner Tür zu hören, habe ich erschreckt innegehalten und nicht gewusst, was zu tun ist. Zeigen Sie Nervenstärke, steht zwar in der Fibel für den Privatdetektiv, auch dann, wenn etwas Sie auf das Äusserste erschreckt, aber das ist oft leichter gesagt als getan. Statt kaltblütig zu handeln und die Briefe zurück in die Aktentasche zu legen, habe ich sie in meinen Koffer getan, eilends das Licht gelöscht und mich schlafend gestellt. Wider Erwarten bin ich tatsächlich eingeschlafen, eine Gelegenheit, die Briefe aus meinem Koffer zu nehmen und sie zurück in die Aktentasche zu legen, hat sich nicht mehr ergeben, denn der alte Herr hat mich am nächsten Morgen geweckt, sich nach seiner Aktentasche gebückt und sie an sich genommen. Er hat seine Haushälterin angewiesen, mir ein üppiges Frühstück vorzusetzen, hat dann ein Taxi gerufen und mir alles Gute für die bevorstehende Operation gewünscht. Weil er versprochen hat, mich in der Klinik zu besuchen, habe ich es verabsäumt, mir seinen Namen und seine Adresse zu notieren. Ich habe vergebens auf ihn gewartet, nach ein paar Tage war mir klar, dass er das Fehlen der Briefe bemerkt haben muss. Er wird mich für einen nichtsnutzigen Dieb halten, hab ich mir gedacht und mir vorgenommen, die Sache früher oder später wieder ins Reine zu bringen. Finde den alten Herrn für mich, habe ich schon mehrmals zu Susanna gesagt, aber bis jetzt hat sie bloss halbherzige Anstrengungen unternommen und ist gänzlich erfolglos geblieben. Wenn du partout keine Zeit hast, kann sich einer ja von den Jungen darum kümmern, die sind ohnehin nicht ausgelastet, habe ich vorgeschlagen, aber auch davon hat sie nichts hören wollen. Tatsächlich sind in unserer Detektei stets ein paar junge Männer beschäftigt, die man für die wirklich kniffligen Fälle noch nicht einsetzen kann, die aber für Erkundigungen und Observationen durchaus brauchbar sind. „ Jonathan könnte sich darum kümmern.” “Jonathan ist schon seit zwei Wochen krank.”  “Es muss nicht unbedingt Jonathan sein.”  Wir haben, wie gesagt, eine ganze Reihe anstelliger junger Männer, auf die wir im Notfall normalerweise zurückgreifen können, aber Susanna behauptet steif und fest, dass keiner von ihnen verfügbar ist. Dann kümmere dich selber drum, hab ich letztens zu ihr gesagt, das wäre mir ohnehin am liebsten. Susanna observiert und ermittelt hervorragend, ich denke mir immer, dass sie im Innendienst eigentlich am falschen Platz ist, habe das auch schon mehrmals angedeutet und sie damit gegen mich aufgebracht. Ich war zwanzig Jahre lang unterwegs, hat sie gesagt, unter teilweise katastrophalen Bedingungen, das waren Lehr- und Wanderjahre, von denen die Jungen heutzutage nicht die geringste Ahnung haben. Es ist immer der gleiche Sermon, immer wenn sie sich vor einer unangenehmen Sache drücken will, erzählt sie mir von früher, ich kenne das schon, zeige ihr dann zwar ein aufmerksames Gesicht, lasse meine Gedanken aber schweifen.

 

7
Rot

Gleich vorweg: mein Einfall mit der implantierten Kamera ist nicht realisiert worden, obwohl der Eingriff bereits in allen Details geplant war. Ich halte die Idee heute noch für praktikabel, aber Susanna hat ihre eigenen Pläne verfolgt und über meinen Kopf hinweg anders entschieden. Wir pflanzen die Kamera direkt unter die linke Braue, ein kleiner Wulst seitlich an der linken Schläfe enthält den Sender, gesteuert wird das Ganze mittels Infrarot, eine wirklich elegante Lösung, die durchaus Schule machen könnte, hat der Chirurg gesagt, aber Susanna hat abgewunken. Als klar war, dass meine Idee mit dem Implantat ad acta gelegt wird, hat mir der Chirurg den betreffenden Zeitungsausschnitt zurückgebracht und bedauert, dass Susanna sich gegen den Eingriff entschieden hat. Das hätte hervorragend geklappt, hat er gesagt, eigentlich schade, dass kühne Ideen immer an den Kosten scheitern. Er hat den Zeitungsausschnitt wieder aufgenommen und ihn aufmerksam durchgelesen. Bei solch einem Eingriff kann ganz leicht etwas schief gehen, hat er kopfschüttelnd gesagt und das Foto des Künstlers eingehend betrachtet.  “Er sollte es lieber hier bei mir machen lassen.” Susanna, die die ganze Zeit stumm dagesessen ist, hat die Hand nach dem Zeitungsartikel ausgestreckt, aber der Chirurg hat ihre ausgestreckte Hand übersehen und den Zeitungsausschnitt zurück auf meinen Nachttisch gelegt. Sie ist aufgestanden und hat ihn an sich genommen. Was soll das Ganze überhaupt, hat sie gefragt und das Foto kopfschüttelnd betrachtet, wieso lässt der sich noch ein Ohr implantieren, wozu noch ein Ohr? In manchen Dingen ist Susanna ein wenig schwer von Begriff und ich habe mit den Chirurgen einen amüsierten Blick gewechselt. “Das dritte Ohr verbindet den Künstler direkt mit dem Internet, steht ohnehin alles im Artikel, er ist dann ständig online.” Susanna hat den Kopf geschüttelt, und mit ihrer Meinung über moderne Kunst und die Künstler im allgemeinen nicht hinter dem Berg gehalten. Ernsthafte Männer sollten sich mit ernsthaften Dingen beschäftigen, hat sie gesagt und den Zeitungsartikel in ihrer Handtasche verstaut. Das mit der Kamera lassen wir also , hat sie zum Chirurgen abschliessend gesagt, Béla wird einen anderen Weg finden, Tizian zu überführen, er ist nicht umsonst einer meiner kreativsten Mitarbeiter. Beinahe mein bestes Pferd im Stall hat sie gesagt und gelacht, auf alle Fälle nicht so abgehalftert wie die anderen. In der Folge hat sie mich mit ihren neuesten Plänen bekanntgemacht. Die ganzen Voruntersuchungen und Vorbereitungen auf die Operation sollen nicht umsonst gewesen sein, hat sie gesagt, hör mir genau zu und bleib ganz ruhig, ich habe umdisponiert, es hat mit dem neuen spektakulären Fall zu tun, der uns ins Haus steht. Wenn du nicht mitmachst, ist in meiner Detektei kein Platz mehr für dich, hat sie gesagt und mich an Kapitel acht in der Fibel für den Privatdetektiv erinnert. Der Detektiv hat etwaigen Anforderungen seiner Vorgesetzten auch dann Folge zu leisten, wenn damit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist. Der Wunsch nach körperlicher Unversehrtheit muss gänzlich hintangestellt werden. Sie hat die entsprechende Stelle aufgeschlagen und ist darangegangen, mir Kapitel acht in allen Einzelheiten vorzulesen, aber ich habe abgewunken. Schon gut, hab ich gesagt, sag mir einfach, worum es geht. Es geht um einen geringfügigen Eingriff, hat Susanna gesagt, um eine Nasenkorrektur, ich habe einen hochinteressanten, neuen Fall an Land gezogen, eine echte Herausforderung, die dich in der Branche mit einem Schlag bekannt machen wird. Du erinnerst dich an den Herrn, der letztens in meinem Büro war, hat sie gesagt, du hast dich über seine Anwesenheit während unseres Gesprächs mokiert, aber er hat dich bloss unauffällig in Augenschein nehmen wollen. Er war sehr angetan von dir, ich habe nur wenig übertrieben und ihm gesagt, dass du mein bestes Pferd im Stall bist und er wäre froh, wenn du seinem Anliegen nähertreten wolltest. Ich bin wortlos aufgestanden, habe das Licht über dem Waschtisch angeknipst und meine Nase im Spiegel betrachtet. Ich bin zugegebenermassen nicht mehr der Jüngste, sehe aber immer noch tadellos aus. Ich habe meine makellos geformte Nase betastet und Susanna  aufgefordert, mich umfassend zu informieren. Es geht darum, jemanden aufzustöbern, der seit einem Jahr abgängig ist, hat sie gesagt und du hast von vorneherein einen Trumpf im Ärmel. Du siehst dem Abgängigen frappant ähnlich, tatsächlich bist du ihm sogar wie aus dem Gesicht geschnitten,  hat Susanna gesagt, nur eure Nasen sind verschieden, was sich aber leicht beheben liesse. Und was hätte ich dann für eine Nase, hab ich gefragt, die Fotografie, die mir Susanna entgegengestreckt hat, zögernd ergriffen und ungläubig auf einen mürrischen Mann mit einer lächerlichen Knopfnase geschaut. Ausgeschlossen, hab ich gesagt, gänzlich ausgeschlossen, das wäre ja eine vorsätzliche Verstümmelung, du kannst nicht im Ernst glauben, dass ich mich dazu bereit finde. Ich habe das Bild auf meinen Nachttisch gelegt und meine Arme vor der Brust verschränkt. Wie stehts um ihre ethischen Prinzipien, habe ich den Chirurgen gefragt, der unserem Wortwechsel stumm zugehört hat, es ist doch sicher nicht vertretbar, eine tadellose Nase von nahezu griechischem Ebenmass in eine lächerliche, gänzlich unmännliche Knopfnase zu verwandeln? Aber der Chirurg hat bloss die Achseln gezuckt und etwas von Sachzwängen gemurmelt. In der Folge ist es zu einer Grundsatzdebatte zwischen Susanna und mir gekommen, ich habe mich Susannas Ansinnen nach Kräften widersetzt, schliesslich aber klein beigeben müssen. Entweder du lässt es machen oder wir sind geschiedene Leute, hat Susanna gesagt, ausserdem werde ich dich besser bezahlen als üblich. Und die Rückoperation, wenn du den Auftrag erfolgreich zu Ende gebracht hast, bezahle ich auch, hat sie hinzugesetzt und ich habe mich schliesslich in mein Schicksal gefügt. Der Chirurg hat mir den Ablauf der Operation geschildert, für uns ist das die reine Routine, hat er gesagt, Sie werden in Rekordzeit wieder auf dem Posten sein, seien Sie gänzlich unbesorgt. Das Recht, mich nach erledigtem Auftrag auf ihre Kosten rückoperieren zu lassen, hat mir Susanna schriftlich einräumt. Die Operation selbst ist komplikationslos verlaufen, als man mir die Verbände abgenommen hat, bin ich eine ganze Weile ernsthaft deprimiert gewesen und habe mich nur schwer mit meinem neuen Aussehen abfinden können. Wenn jemand nicht lockerlässt, erklären Sie den Eingriff mit einer neuen Nasenscheidewand, da schöpft niemand Verdacht, hat der Chirurg gesagt, an sich ist alles prächtig gelungen. Ich habe mich in allem an seine Anweisungen gehalten und mich in Rekordzeit erholt. Am Tag meiner Entlassung ist Susanna gekommen, um mich nach Hause zu chauffieren. Das nächste Mal wenden wir uns an eine andere Klinik, hat Susanna gesagt, nachdem sie die Spitalsrechnung Punkt für Punkt mit dem Chirurgen durchgegangen ist und über mehrere Beträge genaueste Nachweise verlangt hat. Ich habe mich während der gesamten Autofahrt im Spiegel betrachtet und meiner alten Nase nachgetrauert. Dass mein erstes Treffen mit Tizian unter diesen Umständen nicht komplikationslos verlaufen ist, hat mich nicht überrascht. Tizian hat sich an meinen neuen Anblick nur schwer gewöhnen können und ratlose Blicke auf meiner Nase geworfen. Früher hast du mir aber besser gefallen, hat er gesagt, wieso hast du dir so eine hässliche Nase machen lassen. Unser früher so gutes Einvernehmen  hat sich eine ganze Weile nicht mehr herstellen lassen und ich habe Susanna von den neu aufgetretenen Schwierigkeiten in Kenntnis gesetzt. Man muss ihn observieren, hat Susanna gesagt, und mir von sich aus eine Hilfskraft angeboten. Normalerweise pflegt Susanna aus allen, die zu ihrem Stall gehören, herauszupressen, was nur möglich ist, also war ich über ihre zarte Rücksichtnahme einigermassen verwundert.  „Du hast mir noch nie eine Hilfskaft bewilligt.“ Susanna hat die Achseln gezuckt und die Papiere auf ihrem Schreibtisch millimetergenau zur Kante ausgerichtet. „Du musst dich schonen, weil doch schon der nächste anspruchsvolle Fall auf dich wartet.“  Sie hat ihre Sekretärin angewiesen, Jonathan zu rufen und sich dann zu mir geneigt. „Jonathan wird dich unterstützen, er ist der einzige, den ich zur Not entbehren kann.” Nun verhält es sich so, dass Jonathan nur für einfachste Routinearbeiten einsetzbar ist und keine wirkliche Entlastung darstellt. Er war eine Zeitlang beim Militär, da hat es ihm nicht gefallen, dann war er Geldtransporteur, Warenhausdetektiv, Strassenbahnkontrolleur, Angestellter eines Inkassobüros und jetzt versucht er, bei uns in der Detektei Fuss zu fassen. Aber so wie ich ihn einschätze, wird ihm das nicht gelingen. Ihm fehlt das gewisse Etwas, er ist träge, tut nur, was ihm gesagt wird und macht die Sache seiner Auftraggeber nicht zu seiner eigenen. Es genügt ihm völlig, zu Susannas Stall zu gehören, übermässiger Ehrgeiz liegt ihm fern. Tizian zu überwachen, ist das Einfachste von der Welt, hab ich zu ihm gesagt, er ist völlig berechenbar, im Grunde ist das ein Job für einen Anfänger. Jonathan hat nur das Wort Anfänger aufgeschnappt und ist wütend vom Stuhl aufgesprungen, einen Moment habe ich geglaubt, dass er auf mich losgeht. “Ich bin kein Anfänger, ich war eine Zeitlang beim Militär, aber da hat es mir nicht gefallen, dann war ich Geldtransporteur, Warenhausdetektiv, Strassenbahnkontrolleur, und jetzt bin ich Angestellter eines Inkassobüros, niemand darf mich ungestraft einen Anfänger nennen” Susanna und mir ist es nur mit Mühe gelungen, ihn zu beruhigen. Wenn man Jonathans Intelligenz testen wollte, käme man auf ein sehr mässiges Ergebnis, aber wenn man ihn genaue, leicht fassliche Anweisungen gibt, befolgt er sie im allgemeinen verlässlich.   “Du postierst dich vor Tizians Haus, weichst nicht von der Stelle und meldest mir jede Veränderung.” Ganz allmählich hat sich Tizian an mein verändertes Aussehen gewöhnt und sein Misstrauen abgelegt. Er hat mich wieder des öfteren in meiner Wohnung besucht, ich habe ihn ganze Abende lang Tierfilme ansehen lassen, habe in seiner Gegenwart nach Zahlen gemalt, ihn diesbezüglich des öfteren um Rat gefragt und mich so wieder in sein Vertrauen geschlichen.  Unser Auftraggeber hat immer wieder nachgefragt, wann denn nun mit Ergebnissen zu rechnen sein wird und mehrmals betont, dass er sich nicht mehr lang hinhalten lässt. Sobald Tizian irgendwas malt, setzen Sie bitte die erforderlichen Schritte, hat er gesagt, Sie berichten zwar, dass seine Blockade überwunden ist, ernstzunehmende Beweise haben Sie bis jetzt noch nicht geliefert, wie lange soll ich denn noch warten. Unsere wöchentlichen Unterredungen sind zunehmend unerfreulich verlaufen und Susanna hat ihrer Besorgnis Ausdruck verliehen. Er erzählt allen, die es hören wollen, dass man bei uns nicht gut bedient wird, hat sie gesagt und mich aufgefordert, das Ganze voranzutreiben. Sonst leidet unser Ruf, hat sie gesagt, das kann sich fatal auswirken, denk daran, dass ein spektakulärer Fall auf dich wartet. Demnächst mache ich dich mit deinem neuen Auftraggeber bekannt, nicht auszudenken, wenn ihm das Geschwätz zu Ohren kommt und er sich doch noch an eine andere Detektei wendet, dann sind wir unten durch in der Branche. Wer ersetzt uns die Auslagen, die wir schon gehabt haben, hat Susanna gesagt und die Hände gerungen, allein deine Operation hat ein Vermögen gekostet. Diese Unterredung hat mich, was wohl leicht verständlich ist, in eine äusserst gedrückte Stimmung versetzt. Ich bin den Wehrkanal entlang nach Hause gegangen und habe mich auf der Höhe der Fussgängerbrücke über das Geländer gebeugt und ins schnell fliessende Wasser geschaut. Nach einer Weile hat sich ein alter Mann zu mir gesellt. Er hat mich auf die Enten aufmerksam gemacht, ich füttere sie jeden Tag, hat er gesagt, jeden Nachmittag, am Nachmittag die Enten am Wehrkanal, am Abend die Tauben im Rathauspark, das ist mein Tagesablauf, an dem ich festhalte, jahraus, jahrein. Wir haben noch über dieses und jenes geredet, der alte Herr ist in seiner Themenwahl ein wenig sprunghaft gewesen, zuguterletzt hat er mir von seinem Lieblingsenkel erzählt. Zu jedem Geburtstag schenkt er mir ein selbstgemaltes Bild, hat er gesagt, ich will ja nicht undankbar sein, aber immer diese grossen Formate, das ist ein Problem. Meine Wohnung ist eher klein, wissen Sie. Nach einer Weile habe wir uns voneinander verabschiedet und ich bin in Gedanken nach Hause gegangen.

8
Englischrot

Schon einen Tag nach meinem Gespräch mit dem alten Mann am Wehrkanal habe ich Tizian mit einem Stück Leinwand, neuen Farben aus dem Malgeschäft und einem makellosen Malerkittel überrascht. Einer meiner Kunstbände ist aufgeschlagen seitwärts auf einem Tischchen gelegen. Tizian hat mich fragend angeschaut. “Willst dus jetzt ohne diese dummen Zahlen probieren?” Ich habe den Kopf geschüttelt. “Nein, die Farben und die Leinwand sind für dich. Mein Grossvater hat doch demnächst Geburtstag, er liebt Bilder, nichts macht ihm grössere Freude als ein Bild, könntest du nicht eines malen, wenn ich dich sehr darum bitte?“ Tizian hat ein bedenkliches Gesicht gemacht und den Bildband mit scheelen Blicken betrachtet. „Und was für eines? Wenn du glaubst, ich male einen Franz Marc, muss ich dich leider enttäuschen“ Ich habe eilfertig verneint und auf das aufgeschlagene Buch gewiesen.  „Aber nein, es muss kein Franz Marc sein, such dir irgendwas aus, meinem Grossvater gefällt alles.“ Tizian hat den Band sorgfältig durchgesehen und sich schliesslich für das unansehnlichste Bild entschieden.  „Das da könnte eventuell gehen.“ „Wer ist das?“ „Egger-Lienz.“ Ich habe insgeheim den Kopf über seine Wahl geschüttelt, war aber trotzdem froh, dass er meinem Vorschlag zumindest nähergetreten ist. Er hat nach den Pinseln gegriffen und die Farben kontrolliert. „Du hast gute Farben gekauft.“ Er hat die Reproduktion ein Weile studiert und dann den Kopf geschüttelt. „Nur haben wir so gut wie keine Brauntöne, auf Brauntöne kann man aber bei einem Egger-Lienz keinesfalls verzichten. “ Ich habe sofort angeboten, nochmals ins Farbengeschäft zu gehen. Ja, tu das, hat Tizian gesagt, dein Grossvater soll ein Bild bekommen, an dem er sich freuen kann. Lebt er auf dem Land, hat er gefragt und ich habe aufs Geratewohl einen Ortsnamen im Gebirge genannt. Tizian hat zufrieden genickt. Da ist Egger-Lienz genau das Richtige, hat er gesagt, und geradezu ideal ist er für ältere Herren, die den Krieg mitgemacht haben. Hat dein Grossvater den Krieg mitgemacht, hat er gefragt und ich habe eilfertig bejaht. “Sicher hat er den Krieg mitgemacht. “ Tizian hat das Bild eingehend studiert und nach einer Weile zweifelnd den Kopf gehoben. „Aber das ist der Totentanz von Anno neun, das geht nicht, nicht für ein Geburtstagsgeschenk, da schenkt man kein Bild, auf dem der Tod vorkommt, schau dir das Skelett an, wie alt ist Dein Grossvater?“ „Fünfundsiebzig, aber sehr weltoffen. Ein Freigeist.“ Ich habe ihm eine Reihe von Anekdoten erzählt, um die Weltoffenheit meines Grossvaters zu untermauern, und Tizian hat seine Bedenken schliesslich beiseite geschoben. Ich bin nochmals in das Farbengeschäft gegangen und habe die Verkäuferin angewiesen, alles, was an Brauntönen vorrätig ist, einzupacken. Als ich zurückgekommen bin, hat Tizian mich sofort wieder losschicken wollen. Fahr in die Hauptstadt, hat er gesagt, geh ins Museum und kauf einen Kunstdruck vom Totentanz von Anno neun. Ich habe meinen Auftraggeber von der erfreulichen Wendung der Dinge unverzüglich in Kenntnis gesetzt, Tizian hat seine Blockade zur Gänze überwunden, hab ich gesagt, Sie werden zufrieden sein, ich werde Ihnen in absehbarer Zeit einen Egger-Lienz bringen. Einen signierten Egger-Lienz, wenn ich bitten darf, hat mein Auftraggeber gesagt, sonst ist alle Mühe umsonst und wir stehen wieder am Anfang. Die Notwendigkeit einer Reise in die Hauptstadt hat er eingesehen und mir die Bahnfahrt zweiter Klasse bezahlt. Das ist das Letzte, was ich in diese Sache investiere, hat er gesagt, dann will ich endlich Ergebnisse sehen. Tizian hat sich während der Zeit meiner Abwesenheit den Kellerschlüssel geben lassen und sich mit meinen Kartons die Zeit auf das Angenehmste vertrieben. Macht wirklich Spass, dieses Malen nach Zahlen, hat er gesagt und mir nach meiner Rückkehr eine ganze Reihe Bilder präsentiert, aber nur dann wenn man sich nicht so sklavisch an die Vorschriften hält, ich kümmere mich nicht um die Zahlen, wenn rot vorgeschrieben ist, nehme ich grün und umgekehrt, das ergibt die überraschendsten Effekte. Und den fertigen Egger-Lienz zeigen wir zuallererst Lene, hat er gesagt, dann wird sie sehen, dass ich wieder ernsthaft male und aufhören, mich einen Versager zu nennen. Genauso machen wirs, hab ich gesagt, den fertigen Egger-Lienz zeigen wir zuallererst Lene. Dann habe ich Tizian den Kunstdruck ausgehändigt und ihn aufgefordert, keine Zeit mehr verstreichen zu lassen. Ich werde dir zusehen, hab ich gesagt, ich sitze ganz still in der Ecke und sehe zu, du wirst gar nicht merken, dass ich in der Nähe bin. Leider hat sich sehr bald herausgestellt, dass Tizian äusserst langsam gearbeitet hat. Ich habe ihn aufgefordert, schneller zu malen.  „Der Geburtstag meines Grossvaters ist doch schon nächste Woche.“  Entmutigt hat er den Pinsel sinken lassen.  „Das schaffe ich nie.“ Aber er hat sein Arbeitstempo gesteigert und fleissig gearbeitet, von morgens bis abends, und oft noch bis in die Nacht hinein, sodass ich meinem Auftraggeber etwas voreilig einen Termin für die Übergabe genannt habe. „Nächsten Montag haben Sie das Bild. Ist Ihr Anwalt schon informiert?“ „Aber ja. Schon längst.“ Obwohl mein Auftraggeber Gelassenheit vorgetäuscht hat, war ihm deutlich anzumerken, dass ihn meine Nachricht in äusserste Aufregung versetzt hat. Ich habe mit Susanna einen amüsierten Blick gewechselt. Es bleibt also bei Montag, hat er gesagt, bloss jetzt keinen Aufschub mehr, ich warte weiss Gott schon lange genug. Nachdem die Unterredung beendet war, hat Susanna mich aufgefordert, noch zu bleiben. Setz dich hierhin, hat sie gesagt und auf die Sitzecke gewiesen, in der ich noch nie habe sitzen dürfen. Sie hat neben mir Platz genommen und wir haben die hinter mir liegenden Schwierigkeiten erörtert. Wenn man gute Arbeit leistet, erkennt Susanna das neidlos an, da kann man ihr nichts vorwerfen. Gut gemacht, Béla, hat sie gesagt, das war tadellose Arbeit, aber das Grundkonzept ist falsch, kein Gericht der Welt wird euren Tizian wegen eines gefälschten Egger-Lienz zu einem Gefängnisaufenthalt verurteilen, das sage ich dir jetzt schon. Mach dich darauf gefasst, dass die ganze Sache noch ein Nachspiel hat. Susannas Bedenken haben mich nicht überrascht, der Gedanke dass mein Konzept auf wackligen Füssen steht, ist mir nicht gänzlich neu gewesen. Ich würde dir dringend raten, über deine weitere Vorgangsweise nachzudenken, hat Susanna gesagt. Mag sein, dass du recht hast, hab ich gesagt und sie gebeten, mir ein paar Tage Urlaub zu gönnen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, hab ich gesagt, du weisst, dass du mir in letzter Zeit einiges abverlangt hast. Susanna hat eine Weile über die geringe Belastbarkeit ihrer Mitarbeiter räsoniert,  mich dann aber doch schärfer ins Auge gefasst. Stimmt, hat sie gesagt, du siehst tatsächlich ein wenig blass aus, vor allem um die Nasenspitze, hat sie gesagt und gelacht, aber muss das mit dem Urlaub gerade jetzt sein? Ich habe dir doch ohnehin Jonathan zur Verfügung gestellt, sollte er etwa keine Entlastung sein? Absolut nicht, hab ich gesagt, eher das Gegenteil. Es geht bei Susanna oftmals nur darum, die richtigen Worte zu finden, dann kehrt sie gerne die besorgte Arbeitgeberin heraus. Na schön, hat sie gesagt und mich nochmals gemustert, gehen wir vorderhand  davon aus, dass mit der Ablieferung des gefälschten Bildes deine Arbeit getan ist. Dann kannst du ein paar Tage Urlaub nehmen, und dich so richtig erholen. Bevor du dich an deinen nächsten Fall machst. Sie hat sich nach meinem Urlaubsziel erkundigt und ich habe ihr einen abgelegenen Bergsee im Hochgebirge genannt. Immer fährst du an ein und denselben Ort, hat Susanna gesagt und den Kopf über meine Phantasielosigkeit geschüttelt, fahr doch zur Abwechslung einmal ans Meer. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass ich alles, was ich an Phantasie aufbringen kann, im Arbeitsalltag brauche und nichts erholsamer sein kann als ein paar Tage an einem idyllischen Bergsee. Jaja, schon gut, hat Susanna gesagt, du fährst also, sobald das Bild fertiggestellt ist und dein Auftraggeber es in Händen hat. Sei aber stets telefonisch erreichbar. Und wenn du dann erholt zurückkommst, sagen wir nach vier oder fünf Tagen, wartet, wie gesagt, schon der nächste interessante Fall auf dich. Also habe ich Tizian weiter zur Eile angetrieben und die täglichen Anrufe meines Auftraggebers haben mich zusätzlich unter Druck gesetzt, Tizian malt, so schnell er kann, hab ich gesagt, aber ein Egger-Lienz braucht seine Zeit. Dass das Bild nur ja signiert ist, hat mein Auftraggeber gesagt, legen Sie darauf Ihr besonderes Augenmerk, sonst geht es nicht als Fälschung durch und wir stehen wieder am Anfang. Ich weiss nicht, ob ich Tizian dazu überreden kann, hab ich gesagt, und ein wenig weiter ausholen wollen, bin aber barsch unterbrochen worden.  „Wie Sie dabei vorgehen, ist Ihre Angelegenheit. Mich interessiert nur, wann ich das Bild  haben kann. Das signierte Bild, wohlgemerkt.“ Natürlich hat Tizian sich anfangs geweigert, das Bild zu signieren. Das ist glatter Betrug, hat er gesagt, du weisst doch, wie ich darüber denke. Wieso willst du überhaupt, dass ich es signiere, hat er gefragt, deinem Grossvater wird das doch wohl egal sein. Ich habe ihm energisch widersprochen. „Ganz im Gegenteil. Gerade darauf legt er allergrössten Wert.“ Schliesslich hat er sich überreden lassen, die richtigen Initialen unter das Bild zu setzen und ich habe erleichtert aufgeatmet. Das Bild hat nach einem perfekten Egger-Lienz ausgesehen und wir haben es, wie geplant, zuallererst  Lene gezeigt. Erst ist sie interessiert nähergetreten, dann hat sie die Nase gerümpft. Sowas Hässliches, sie gesagt, und Tizians Fälschung mit dem Kunstdruck verglichen. Dann hat sie Tizian mit einem halben Lächeln bedacht, eingeräumt, dass er exakt gearbeitet hat und ihn damit in den Zustand reinster Glückseligkeit versetzt. In der Folge habe ich das Bild meinem Auftraggeber übergeben.  Das ist ein grosser Moment gewesen, er hat es fachmännisch begutachtet und zufrieden genickt. Absolut professionelle Arbeit, hat er gesagt, damit haben wir ihn, ich bin sicher. Ich habe erleichtert aufgeatmet, Susanna, wie verabredet, von der Übergabe in Kenntnis gesetzt und ihr meine Urlaubsanschrift bekanntgegeben. Ich habe in der gutgeführten Pension direkt am See Quartier bezogen, aber schon am Abend des zweiten Tages hat mich der Anruf erreicht, auf den ich insgeheim ohnehin erwartet habe. Als mir die Pensionswirtin mit dem Dessert auch das Telefon gebracht hat, habe ich gleich gewusst, dass sich die Dinge nicht so entwickelt haben, wie mein Auftraggeber sich das vorgestellt hat. Ich war nicht überrascht, seine Stimme zu hören. Wo verstecken Sie sich denn, hat er gefragt, Sie werden nochmals gebraucht. Ich brauche noch mehr solcher Bilder, der eine Egger-Lienz reicht nicht. Und die gefälschten Franz Marcs und Paul Klees, die in Ihrem Besitz sind, hab ich gefragt, was ist mit denen? Da ist der Nachweis nicht möglich, hat mein Auftraggeber gesagt, wie will ich beweisen, dass Tizian sie gemalt hat? Ich habe für einen Moment geschwiegen, mir die Schwierigkeiten, die ich bereits auf mich genommen habe, ins Gedächtnis gerufen und der Pensionswirtin bedeutet, dass sie das Dessert wieder mitnehmen kann. Ich fürchte, ich kann nichts mehr für sie tun, ich sehe keine weitere Möglichkeit, hab ich zu meinem Auftraggeber gesagt, es war schwer genug, Tizian zu dem einen Bild zu motivieren. Daraufhin hat er mich mit überkippender Stimme über meine Pflichten belehrt, behauptet, dass ich schlecht gearbeitet habe und mein geringes Engagement beklagt. So muss man mir nicht kommen. Weil sich zwischen uns beiden schon seit längerem eine tiefe Abneigung breit gemacht hat, habe ich mit meiner Sicht der Dinge nicht länger hinter dem Berg gehalten und habe meinem Auftraggeber mitgeteilt, was ich von ihm und seinen niedrigen Motiven halte. Tizian ist eine Seele von einem Menschen und Ihre Rachsucht überaus fehl am Platz, hab ich zuguterletzt gesagt und das Gespräch unterbrochen. Am nächsten Tag hat mich Susanna in die Kanzlei zurückbeordert und mit Vorwürfen überhäuft. So kann man mit einem Klienten nicht umgehen, hat sie gesagt, du hast ihn beschimpft und ihm alles mögliche an den Kopf geworfen, sowas ruiniert unseren Ruf. Du muss dich bei ihm entschuldigen, hat sie gesagt und dann musst du endlich Nägel mit Köpfen machen. Lass dir was einfallen, sonst sind wir unten durch in der Branche. Also habe ich meinen Auftraggeber am nächsten Tag in seiner Wohnung aufgesucht, mich für meine Entgleisung entschuldigt und ihm versichert, dass wir schon noch einen Weg finden werden, Tizian hinter Gitter zu bringen. Und was ist mit der Frau, hat er gefragt, haben Sie die Frau etwa schon wieder vergessen? Die Frau bekommt auch einen Denkzettel, hab ich gesagt, seien Sie ganz unbesorgt. Dann habe ich mich nach dem Egger-Lienz erkundigt. „Was war falsch daran?“ Mein Auftraggeber hat die Achseln gezuckt. “Er war gut, aber bei weitem nicht ausreichend. Damit kann man niemanden dingfest machen, hat der Anwalt gesagt. Das geht höchstens als grober Unfug durch. Die Bereicherungsabsicht muss deutlich erkennbar sein.“ Ich habe Susanna von dieser Unterredung in Kenntnis gesetzt und sie hat eingesehen, dass ich mit meinem Latein am Ende bin. Bruno könnte dir beispringen, hat sie gesagt, er führt zwar nicht solch eine feine Klinge wie du, schliesst aber alle seine Fälle erfolgreich ab. Dazu muss man vielleicht wissen, dass mich mit Bruno eine tiefe Abneigung verbindet, von Anfang an und wir uns nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. Auf keinen Fall will ich mit Bruno zusammenarbeiten, hab ich gesagt, es wird mir allein ein gangbarer Weg einfallen. Zuhause angekommen, habe ich eine Weile nachgedacht und mich dann in die Fibel für den Privatdetektiv vertieft.        

9
Indischgelb

Bei der wöchentlichen Dienstbesprechung war mein Fall Punkt eins auf der Tagesordnung. Die hämischen Bemerkungen der Kollegen haben kein Ende nehmen wollen, nach einer Weile hat mir Susanna beispringen müssen. Hämische Bemerkungen bringen uns nicht weiter, hat sie gesagt, ganz im Gegenteil, die Hürde muss einfach genommen werden, ich erwarte eure konstruktiven Vorschläge, Béla ist überlastet, so einen schwierigen Fall hatten wir noch nie, und dann wartet ja schon die nächste anspruchsvolle Aufgabe auf ihn. Abgehalftert, hat Bruno gerufen und mir einen verächtlichen Blick zugeworfen, steht ziemlich abgehalftert da, hab ich recht? Aber nach einer Weile hat er Susanna einen praktikablen Vorschlag unterbreitet, den sie natürlich sofort aufgegriffen hat. Ihr müsst dem Maler was unterschieben, hat er gesagt, das ist die einzige Möglichkeit, ich habe das gerade letzthin bei einem ähnlich gelagertem Fall praktiziert und es hat hervorragend geklappt. Am nächsten Tag hat mich Susanna zu sich rufen lassen und mir einen Herrn vorgestellt, den ich sofort wiedererkannt habe. Wir sind uns doch schon begegnet, hab ich zu ihm gesagt, hier in diesem Büro, vor nicht allzu langer Zeit. Richtig, hat er gesagt, Sie haben ein hervorragendes Personengedächtnis. Susanna hat mich aufgefordert, den Kopf zur Seite zu drehen und den Herrn auf meine neue Nase hingewiesen. Der Eingriff ist bestens gelungen, hat sie gesagt, Béla wird Sie hervorragend bedienen, er ist im Augenblick mein bestes Pferd im Stall. Susanna hat keine Skrupel, wenn es um das Renommee ihrer Kanzlei geht und scheut auch vor den plattesten Lügen nicht zurück. Der Herr hat meine Nase betrachtet und zufrieden genickt und mir mehrere Fragen über den Verlauf der Operation gestellt. Ich habe alle seine Fragen beantwortet, mich dann nach seinem Anliegen erkundigt und ihn aufgefordert, mich umfassend zu informieren.  “Wenn ich den Fall übernehmen soll, brauche ich genaueste Informationen. Details, die Ihnen vielleicht unwichtig erscheinen, bieten oft einen Lösungsansatz, das erleben wir immer wieder.”  Daraufhin hat der Herr seine Aktentasche geöffnet und einen Stapel Fotos vor mich hingelegt. “Sie müssen Ludwig wiederfinden und seine Blockade lösen. Ich brauche dringend ein paar Lieder von ihm. Je mehr, desto besser. Alles, was Ludwig schreibt, wird ein Erfolg und hat das Zeug zum Welthit. Vor etwa einem Jahr ist er mir weggelaufen. Ich habe Ihnen sein letztes Lied mitgebracht, hat mein neuer Auftraggeber gesagt und eine Musikkassette aus seiner Aktentasche gezogen, Sie werden es sofort erkennen, jedermann kennt es. Susanna hat eine leistungsfähige Stereoanlage in ihrem Zimmer. Schon vor einiger Zeit hat sie in allen Räumen der Detektei Lautsprecher anbringen lassen und spielt zur Hebung der Arbeitsmoral des öfteren Mozart, Händel und Bach. Sie ist aufgestanden und hat die Kassette eingelegt, wir haben eine Weile konzentriert zugehört und dann einen Blick des Einverständnisses gewechselt. Na, habe ich zuviel versprochen, hat unser neuer Auftraggeber gesagt, Sie kennen das Lied, stimmts? Susanna und ich haben genickt, natürlich kennen wir das Lied, hat Susanna gesagt, aber Ihr Anliegen wird nicht so ohne weiteres zu lösen sein, es werden Ihnen erhebliche Kosten erwachsen, wir machen Ihnen da gar nichts vor. Geld spielt keine Rolle, hat unser Auftraggeber gesagt, bringen Sie mir Ludwig wieder, am besten mit einem vollgeschriebenen Notenheft, wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache. Man hat einen neuen, erfolgversprechenden Stoff an mich herangetragen, der Stoff ist tragfähig, man könnte ein Musical daraus machen, aber der Stoff alleine nützt noch gar nichts, ich brauche zwanzig zündende Lieder, ich muss sie haben, um jeden Preis. Und warum brauchen Sie die gerade von Ludwig, hab ich gefragt, es gibt doch viele Leute, die Lieder schreiben. Der Herr hat den Kopf geschüttelt und eine resignierte Handbewegung gemacht. So einfach ist das nicht, hat er gesagt, nur Ludwig hat das Zeug dazu, das hat kaum einer, und nur deswegen sind alle hinter ihm her. Wieso alle, hat Susanna gefragt, wie darf ich das verstehen? So wie ich es sage, hat unser neuer Auftraggeber gesagt, Ihr Mitarbeiter, dabei hat er auf mich gewiesen, ist nicht der einzige, der auf Ludwig angesetzt ist, er wird sich mit einigen seiner Kollegen herumschlagen müssen, seine Aufgabe wird keine einfache sein, ich rede ganz offen. Er muss ein Verwirrspiel spielen und seine Konkurrenten aus dem Feld schlagen und er muss sich in Ludwigs Vertrauen schleichen und ihm die Lieder abpressen, egal wie. Susanna hat mir aufmunternd zugenickt, aber ich habe den Kopf geschüttelt.  “Wie kommen Sie ausgerechnet auf mich?” Der Herr hat sich vorgebeugt und mich einer genauen Musterung unterzogen.  “Sie sind der richtige Mann für sowas. Die Sache mit dem Implantat ist uns zu Ohren gekommen.“ Daraufhin habe ich ihm zu verstehen gegeben, dass es falsch ist, Gerüchte allzu wichtig zu nehmen. „Der Fall ist noch nicht gelöst. Und die Idee mit dem Implantat haben wir fallenlassen.“  „Aber der Lösungsansatz ist genial. Etwas Ähnliches wünsche ich mir auch für unser Problem.“  Ich habe Susanna einen hilfesuchenden Blick zugeworfen. Sie hat sich vorgebeugt und dem Herrn zu verstehen gegeben, dass sie auch noch andere hervorragende Mitarbeiter beschäftigt. „Falls Sie und Béla sich nicht einigen können, mache ich Sie mit August bekannt. Oder mit Jonas. Auch meine anderen Mitarbeiter sind Koryphäen auf ihrem Gebiet, obwohl Béla natürlich im Augenblick mein bestes Pferd im Stall ist. Allerdings ist schon einige Vorarbeit geleistet worden, das müssten wir zu unserem Bedauern in Rechnung stellen.“ Dabei hat sie eine vage Handbewegung in Richtung auf meine Nase gemacht. Aber der Herr ist auf Susannas Vorschlag ohnehin nicht eingegangen, hat den Kopf geschüttelt und die Unterlagen in meine Richtung geschoben.    „Er muss es machen. Er sieht Ludwig frappant ähnlich, das wird seine Konkurrenten verwirren, damit hat er schon einmal einen Trumpf im Ärmel.“ Ich habe ein wenig in den Unterlagen geblättert, unüberwindliche Schwierigkeiten vor mir gesehen und dem Herrn mitgeteilt, dass wenig Aussicht auf Erfolg besteht.   “Die Spur des Gesuchten hat sich doch schon vor einer Weile gänzlich verloren. Da hätten Sie doch schon sehr viel früher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Ausserdem verstehe ich nichts von Musik.“ Ich habe die Fotos durchgesehen, tatsächlich eine starke Ähnlichkeit zwischen mir und dem Gesuchten feststellen können und meine noch immer schmerzende Nase betastet. Natürlich müssen Sie Ludwig erst einmal finden, hat mein neuer Auftraggeber gesagt, er versteckt sich vor mir, und wie gesagt, nicht nur vor mir, das wird Ihre Aufgabe erschweren, ich mache Ihnen da gar nichts vor, er ist untergetaucht, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn Sie ihn gefunden haben, müssen Sie sich ihm behutsam nähern, er ist misstrauisch und menschenscheu und nicht leicht zu behandeln. Der Herr hat sein Notizbuch aufgeschlagen, mich einen Augenblick nachdenklich angeschaut und eine Summe notiert. Dann hat er  das Notizbuch so gedreht, dass die Zahl in mein Blickfeld geraten ist.   “Das wäre Ihre Prämie. Entspricht das etwa Ihren Vorstellungen?” Ich war ein wenig erstaunt über die Höhe der Summe und habe ihn fragend angeschaut.  “Ihr Einfall mit dem Implantat hat mich auf Anhieb überzeugt. Lassen Sie sich wieder was Ähnliches einfallen, dann bin ich ganz zuversichtlich. Ich brauche zwanzig Lieder, sonst kann ich einpacken.“  Ich habe den Herrn ein wenig schärfer ins Auge gefasst. “Wieso gerade zwanzig?“ Er hat die Achseln gezuckt. „Können auch einundzwanzig sein. Nehmen Sie die Zahl zwanzig als Richtwert.“ Er hat weitere Fotos aus seiner Jackentasche gezogen, die ihn und den Gesuchten gezeigt haben und ist ein wenig nähergerückt. Da sehen Sie, hat er gesagt, bis vor einem Jahr war ich sein Mentor und Förderer, er hat es wirklich gut gehabt bei mir, ich habe ihm alle Freiheiten gelassen, er hat sich gänzlich frei bewegen können und eines Tages war er ganz plötzlich verschwunden. Ich hätte Vorsichtsmassnahmen treffen müssen. Mit meinen Vorgängern ist er übrigens ähnlich verfahren, er findet einen Mentor und Förderer, bleibt eine Weile bei ihm, schreibt brav seine Lieder und läuft dann eines Tages auf und davon. Ihre Aufgabe wird keine leichte sein, hat mein neuer Auftraggeber gesagt, Sie müssen ihn finden, sich in sein Vertrauen schleichen und ihm die Lieder abpressen, egal wie, Sie müssen sozusagen das Sandkorn in der Muschel sein, damit sich die Perle bilden kann. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass ich von poetischen Vergleichen gar nichts halte, die Bilder eingehend betrachtet und ihm meine Skepsis nicht verhehlt. Finden werden Sie Ludwig am ehesten im Osten des Landes, hat mein neuer Auftraggeber gesagt, wir haben verlässliche Hinweise, dass er mit einer Schaustellertruppe durchs Land zieht, ich höre, das ist ein Milieu, indem Sie sich als ehemaliges Mitglied des Stadttheaters auskennen. Dann hat er einen weiteren Stapel Fotos aus seiner Aktentasche gezogen und in meine Richtung geschoben. Ich erwarte bald einen ersten ermutigenden Bericht von Ihnen, hat er gesagt, enttäuschen Sie mich nicht. Machen Sie sich so bald wie möglich in den Osten des Landes auf und seien Sie auf der Hut vor Ihren Kollegen. Ich habe etliche Widersacher, die teilweise ältere Rechte geltend machen und die besten Detektive des Landes beauftragt haben. Er hat mir seine Hand entgegengestreckt und mich aufgefordert, einzuschlagen, aber ich habe weiter gezögert und meine fehlende Musikalität ins Treffen geführt. “Ich verstehe nicht das geringste von Musik und Ihr Ludwig ist sicher hochmusikalisch, ich sehe da keine gemeinsame Basis. Er hört doch sicher absolut?“  Mein Auftraggeber hat die Achseln gezuckt.  „Selbstredend hört er absolut. Aber mit genügend Einfühlungsvermögen findet man einen Zugang zu ihm, Ihre Chefin hat Ihr Einfühlungsvermögen besonders hervorgehoben, ich sehe da keine Schwierigkeit.“ Schliesslich hat Susanna, um die Dinge voranzutreiben, den schon vorbereiteten Vertrag aus der Schublade gezogen und vor mich hingelegt. „Du stiehlst allen die Zeit, Béla, unterschreib auf der gepunkteten Linie.“ Aber ich habe meine Bedenken zur Gänze loswerden wollen und Susannas Aufforderung ignoriert.   „Es kann Monate dauern, bis ich mich in sein Vertrauen geschlichen habe. Werden Sie jede Woche nachfragen und mich unter Druck setzen?“ Mein künftiger Auftraggeber hat beteuert, dass er das auf keinen Fall tun wird, Susanna hat mir ihren Füller in die Hand gedrückt und den Vertrag näher zu mir geschoben. Der scharfe Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.  “Unterschreib endlich.” Aber ich habe mich nicht hetzen lassen und meinem neuen Auftraggeber auseinandergesetzt, dass er sich keine allzu grosse Hoffnung machen soll. Bei meinem gegenwärtigen Fall sind die Dinge ganz anders gelagert, hab ich gesagt, ein blockierter Maler ist kein allzu grosses Problem, ich bin durch mein Hobby sozusagen künstlerisch vorbelastet bin, da hat sich ganz leicht eine gemeinsame Sprache finden lassen. Was haben Sie für ein Hobby, hat mein neuer Auftraggeber interessiert gefragt und Susanna ist unruhig auf ihrem Sessel hin und hergerutscht.  „Ich male nach Zahlen. Im Augenblick die Schlacht von Lissa.“ Unser neuer Auftraggeber hat Susanna einen ratlosen Blick zugeworfen, ich aber habe noch ein wenig weiter ausgeholt. Deswegen hat mir Tizian den kunstsinnigen Amateur ja auch ohne weiteres abgenommen, hab ich gesagt, aber von Musik verstehe ich nun wirklich überhaupt nichts. Susanna hat mir den Füller erneut in die Hand gedrückt und auf die gepunktete Linie gedeutet. “ Unterschreib endlich. Das nötige musikalische Wissen eignest du dir in kürzester Zeit an, da bin ich ganz sicher.“ Unser neuer Auftraggeber hat sich vertraulich zu mir gebeugt.  “Geld spielt keine Rolle. Hören Sie sich ein paar Musicals in der Hauptstadt an, damit Sie wissen, was ich von Ludwig erwarte. Ihr Spesenrahmen lässt das ohne weiteres zu.  Ich habe noch einen Augenblick gezögert, nach einem Blick auf Susanna aber gewusst, dass ich den Bogen nicht überspannen darf und meine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt. Auch der Herr hat eilends unterschrieben, mir die Hand geschüttelt und mir versichert, dass er die allergrössten Hoffnungen in mich setzt. Er hat einen kleinen Taschenkalender hervorgekramt, den laufenden Monat aufgeschlagen und mich erwartungsvoll angeschaut. „Wann können Sie anfangen?“ Aber ich habe mit den Fingerspitzen meinen immer noch empfindlichen Nasenrücken berührt und mich auf keinen fixen Termin festnageln lassen. Susanna hat mich überreden wollen, den Kontrolltermin in der Klinik aufzuschieben, aber darauf bin ich nicht eingegangen. Deiner Nase geht es doch bestens, hat sie gesagt, was muss da kontrolliert werden, das ist doch bloss Zeitverschwendung. Aber ich habe nicht mit mir reden lassen und ihr zu verstehen gegeben, dass es meine Gesundheit ist, die auf dem Spiel steht.

 

10
Siena natur

 

 

Letztendlich hat Susanna mir drei Tage zugebilligt. Du bist nicht abkömmlich im Moment, hat sie gesagt, und siehst wohl selbst, dass die Zeit drängt. Ich habe ihr versprechen müssen, mich möglichst zu beeilen, dabei aber meine eigenen Pläne nicht aus den Augen verloren, habe denselben Zug genommen wie bei meiner ersten Fahrt und mich im Speisewagen auf denselben Platz gesetzt. Der Zug hat sich diesmal, im Unterschied zu meiner ersten Fahrt, nur geringfügig verspätet, ich habe ein Taxi bestiegen, die Fahrt mit dem alten Herrn so gut wie möglich rekonstruiert und den Fahrer angewiesen, nach Norden zu fahren. Ich habe den Taxilenker einmal hierhin, einmal dorthin dirigiert, bis er mich aufgefordert hat, auszusteigen und beleidigende Vermutungen über mein Orientierungsvermögen angestellt hat. In der Folge ist es zu einer unerfreulichen Debatte gekommen, weil ich nicht bereit war, den weit überhöhten Fahrpreis zu zahlen. Erst als der Taxilenker gedroht hat, die Polizei zu rufen, habe ich ihm gegeben, was er verlangt hat. Dann habe ich meinen Koffer aufgenommen und bin eine Weile kreuz und quer durch die Strassen gelaufen. Schliesslich habe ich die Orientierung zur Gänze verloren und, nach einer Stunde vergeblichen Herumlaufens, an einem der Häuser geläutet. “Entschuldigen Sie, ich suche einen Bekannten, darf ich Ihnen kurz beschreiben, wie er aussieht.” Der Mann an der Tür hat, sichtlich erbost über die späte Störung, den Kopf geschüttelt.  “Ich wohne erst seit kurzem hier und kenne so gut wie niemanden.” Dann hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Endlich, nachdem ich  eine weitere halbe Stunde herumgeirrt bin, habe ich in der Ferne eine belebtere Strasse ausmachen können. Ich habe ein noch offenes Wirtshaus angesteuert, mich an einen ein wenig abseits stehenden Tisch gesetzt und überlegt, was weiter zu tun ist. Als der Wirt gekommen ist, um die Bestellung aufzunehmen, habe ich ihm mein Problem vorgetragen. Ich habe den alten Herrn möglichst genau beschrieben, aber der Wirt hat den Kopf geschüttelt. In der Folge hat er sich aber als äusserst hilfsbereit erwiesen. Er hat Papier und Bleistift geholt und sich an meinen Tisch gesetzt. “Ich kenne alle Leute in diesem Viertel, buchstäblich alle, fertigen Sie doch eine kleine Zeichnung an, können Sie zeichnen?“ Skizzen von Gesuchten anzufertigen, ist mir in Susannas Detektei als erstes beigebracht worden. Eine Zeichnung meiner Reisebekanntschaft anzufertigen war also ein leichtes für mich, ich habe einen geschulten Blick und ein geradezu fotografisches Gedächtnis, was Äusserlichkeiten betrifft. Ich führe den Zeichenstift sicher über das Papier und bin in der Lage, alles Wesentliche mit wenigen Strichen zu fixieren. Das ist mir schon oftmals zugute gekommen, hat in diesem Fall allerdings zu keinem Ergebnis geführt. Ich habe meine tadellose Skizze  dem Wirt vorgelegt, aber er hat bloss den Kopf geschüttelt. “Kenn ich tatsächlich nicht.” Er hat das Blatt Papier an sich genommen, ist damit von Tisch zu Tisch gegangen und hat es allen seinen Gästen gezeigt. Aber es hat nur ein allgemeines Kopfschütteln gegeben. Schliesslich ist er an meinen Tisch zurückgekommen und hat mir das Blatt wieder ausgehändigt. Ich besitze es heute noch und habe es gerade neulich Susanna gezeigt. Den kennt niemand, hat der Wirt gesagt, vielleicht sind Sie im falschen Stadtteil. Ausgeschlossen, hab ich gesagt, ich erinnere mich deutlich, wir haben die Stadt Richtung Norden durchquert, ich bin ganz sicher. Der Wirt in ein letztes Mal an meinen Tisch gekommen und hat mir einen am Tresen stehenden Herrn gezeigt. Wenden Sie sich an den, hat er gesagt, das ist ein ehemaliger Privatdetektiv, der findet alles und jedes für Sie. Aber ich habe abgewunken. Meine Zeit erlaubt weitere Nachforschungen nicht, hab ich gesagt, ich muss das Ganze auf später verschieben. Ich habe den Wirt gebeten, mir zu beschreiben, wie ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln am besten in die Klinik komme und er hat angeboten, mir ein Taxi zu rufen. Ich habe diesbezüglich soeben ein unerfreuliches Erlebnis gehabt, hab ich gesagt, ich fahre lieber mit dem Bus. In der Klinik bin ich auf das Allerfreundlichste empfangen worden. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass mit meiner neuen Nase alles in Ordnung ist. Der Chirurg hat während der Untersuchungen die Sprache immer wieder auf das fallengelassene Projekt mit dem Implantat gebracht und sich auch nach Tizian erkundigt. Ich habe die Schwierigkeiten, die mir der Fall bereitet hat, ausführlich geschildert und im Chirurgen den interessiertesten Zuhörer gefunden. Ich habe nicht gezögert, ihn auch mit meinem nächsten Fall bekanntzumachen.   “Er ist ähnlich gelagert wie der letzte und doch auch wieder ganz anders. Ich weiss noch nicht recht, wie ich das Ganze anpacken soll. Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die Schaffenskrise eines Malers von der eines Liederschreibers?” Der Chirurg ist ein Mann, der nicht einfach leichtfertig daherredet, sondern sich seine Antworten gründlich überlegt. Er hat den Kopf zum Fenster gedreht, die ziehenden Wolken betrachtet und eine ganze Weile nachgedacht.  “Über Schaffenskrisen weiss ich nichts. Chirurgie ist Reparaturarbeit, Flickwerk. Das kann man immer machen.” Ich habe den Kopf geschüttelt und ihm energisch widersprochen. “Das stimmt nicht, nehmen Sie nur die Dame gegenüber, ihre neue Nase ist nichts weniger als ein vollendetes Kunstwerk.”  “Schon, aber keine Hervorbringung im künstlerischen Sinn.” Er hat gedankenverloren einen meiner Kunstbände vom Nachttisch genommen und darin geblättert. Dann hat er auf das Selbstbildnis mit Kamelienzweig von Paula Modersohn-Becker gewiesen. “Nehmen Sie jedes beliebige Bild in diesem Band. Wenn nun Paula Modersohn-Becker eine Schaffenskrise gehabt hätte? Dann gäbe es irgendwo noch ein Stück leere Leinwand und unversehrte Farbtuben, die nachdrücklich auf das nicht gemalte Bild verweisen, in diesem Fall manifestiert sich die Schaffenskrise also in der nicht genutzten Materie.”  Das habe ich zu entkräften versucht. “Eine leere Leinwand beweist gar nichts. Wenn Paula Modersohn-Becker eine Leinwand leer lässt, heisst das noch nicht, dass sie auch leer bleibt. Dann bemalt sie eben ein anderer, im konkreten Fall wahrscheinlich Otto Modersohn ”  “Er könnte eine andere Art von Leinwand bevorzugt haben.” Ich habe dem Chirurgen zu verstehen gegeben, dass mir eine Unterhaltung über Leinwände nicht unbedingt weiterhilft.  “Wie sieht es nun aber mit einem Lied aus, das nicht geschrieben wird, aus welchen Gründen auch immer?” Der Chirurg hat den Bildband zugeklappt und den Kopf nachdenklich in die Hände gestützt. “Beim nicht komponierten Lied bleibt die Schaffenskrise gänzlich immateriell, wir wissen gar nicht, dass da ein Lied hätte sein können, nichts weist uns auf ein ungeschriebenes Lied hin.” “Ein leere Notenheft könnte darauf hinweisen.”  “Nicht zwingend, nicht so deutlich wie eine leere Leinwand auf ein ungemaltes Bild verweist.” Ich habe dem Chirurgen zu beweisen versucht, dass das Beispiel mit der leeren Leinwand hinkt und er hat schliesslich eingeräumt, dass ich recht habe. Es hat mir gut getan, mit einem gebildeten Mann über die Fragen, die mein nächster Fall mit Sicherheit aufwerfen wird, plaudern zu können. Es wird Ihnen, wenn Sie sich ernsthaft mit Ihrem neuen Fall befassen, ein gangbarer Weg einfallen, da bin ich sicher, hat der Chirurg schliesslich tröstend gesagt, den Bildband zugeklappt und auf meinen Nachttisch zurückgelegt. “Ich würde sagen, dass Sie bei Ihrem neuen Fall im wesentlichen den selben Weg gehen müssen wie bei Tizian, vielleicht bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, das kann ich nicht beurteilen. Kennen Sie den Mann schon?” Ich habe den Kopf geschüttelt, bin aufgestanden und habe ihm ein paar Fotos des Gesuchten gezeigt.   “Nein. Er soll sich versteckt halten, irgendwo im Osten des Landes, ich muss ihn erst aufstöbern. Er soll menschenscheu und vollkommen unzugänglich sein.”  Der Chirurg hat sich die Fotos angesehen.   „Was ist los mit ihm?“ Ich habe die Achseln gezuckt. „Er ist blockiert, verstockt, was weiss ich. Immer wieder gerate ich an solche Fälle.“ Der Chirurg hat mir seine Hand beruhigend auf die Schulter gelegt. “Lässt sich alles lösen. Bei verstockten Leuten muss man etwas finden, was sie ernsthaft durchrüttelt. Wenn Sie meinen Rat wollen: erschrecken Sie ihn zu Tode.“ Ich habe nicht verstanden, worauf der Chirurg  hinauswill und meine Ratlosigkeit offen eingestanden. “Was soll ich tun? Ihn überfallen, misshandeln, irgendwas in der Art?” Der Chirurg hat das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und den Kopf geschüttelt. “Aber nein, keinesfalls. Vielleicht könnte er jemandem begegnen, den er tot glaubt, oder sich selber, irgendwas in der Art, der Ansatz mit der neuen Nase ist völlig richtig.“ Ich habe den Kopf geschüttelt und es für richtig gehalten, den Chirurgen über den eigentlichen Zweck meiner neuen Nase informiert. „Die Nase ist nötig, um meine Konkurrenten zu verwirren. Ich werde an zwei Fronten kämpfen müssen.“ Dann habe ich etwas weiter ausholen und den Chirurgen von den zu erwartenden Schwierigkeiten in Kenntnis setzen wollen, aber er hat auf seine Uhr geschaut und ist aufgestanden.  “Die Pflicht ruft. Ich muss gehen. Mein nächster Patient liegt schon eine ganze Weile narkotisiert am Operationstisch, Sie kennen ihn ohnehin, es ist der Herr aus Zimmer zwölf.” “Was lässt er machen?” Aber der Chirurg hat sich, korrekt wie er nun einmal ist, auf die ärztliche Schweigepflicht berufen und nichts darüber verlauten lassen. Was Ihre Nase betrifft, haben wir hervorragende Arbeit geleistet, hat er abschliessend gesagt, sie  mag zwar unter herkömmlichen Gesichtspunkten Ihr Aussehen nicht unbedingt verbessern, aber technisch ist alles bestens gelungen, kommen Sie in einem halben Jahr erneut zur Kontrolle. Dann hat er mir alles Gute für meinen nächsten Fall gewünscht und mich aufgefordert, ihn auf dem Laufenden zu halten. Sie wissen, Ihre Arbeit interessiert mich ausserordentlich, hat er gesagt, manchmal bin ich nahe daran, Sie zu beneiden. Er hat mich bis in die Eingangshalle begleitet und die Pförtnerin angewiesen, mir ein Taxi zu rufen. Aber ich habe abgewunken, ihm von den schlechten Erfahrungen mit den hiesigen Taxifahrern erzählt und mich nach der Busverbindung erkundigt. Wie Sie wollen, hat der Chirurg gesagt, sich von mir verabschiedet und mir neuerlich eingeschärft, den nächsten Kontrolltermin auf keinen Fall zu versäumen. Ich habe mich auf die bequeme Bank an der Bushaltestelle gesetzt und ein Blick auf meine Armbanduhr hat mir gesagt, dass der Bus eigentlich bald kommen sollte. Die Frau, die quer über die Strasse auf mich zugegangen ist, habe ich eine ganze Weile für eine Fremde gehalten. Erst als sie direkt vor mir haltgemacht hat, habe ich in ihr meine Zimmernachbarin wiedererkannt. Wir haben uns über ihre perfekte neue Nase unterhalten, ich bleibe hier, bis alles komplett ausgeheilt ist, hat sie gesagt und sich über meinen kurzen Aufenthalt verwundert.  “Wieso reisen Sie denn schon ab?”  “Ich würde gern noch bleiben, aber es war ja nur eine Kontrolluntersuchung.” Die Dame hat sich neben mich auf die Bank gesetzt und mich schärfer ins Auge gefasst. “Halten Sie Ihre neue Nase eigentlich für eine Verbesserung? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie früher besser ausgesehen. Wieso haben Sies machen lassen?” Wer derart indiskrete Fragen stellt, darf sich nicht über ausweichende Antworten nicht wundern. Ausserdem hat mir eine Staubwolke in der Ferne gesagt, dass der Bus auf die Minute pünktlich sein wird, also bin ich  aufgestanden, habe meine Koffer genommen und mich an den Strassenrand gestellt.            

11
Silber

Sofort nach meiner Rückkehr hat Susanna mich in ihr Büro befohlen. Sie hat mir höchste Eile angeraten. Erneuere deine Kontakte mit Tizian, hat sie gesagt und bring das Ganze zu einem Ende, notfalls mit Gewalt, du weisst schon, was ich meine. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass es eigentlich unzumutbar ist, mir einen neuen Fall aufzuhalsen, während der vorhergehende noch nicht abgeschlossen ist. Dein ehemaliger Kompagnon hätte gewusst, dass man mit seinen Mitarbeitern so nicht umspringen kann, hab ich gesagt, aber Susanna hat bloss die Achseln gezuckt. Zuerst bringst du die Sache mit Tizian zu Ende, hat sie gesagt, und währenddessen befasst du dich schon ein wenig mit deinem nächsten Fall, ich sehe da kein Problem. Sich mit Susanna auf Debatten einzulassen, ist sinnlos. Ich habe also wieder Kontakt zu Tizian aufgenommen, er hat sich gefreut, mich zu sehen und alles über den Geburtstag meines Grossvaters hören wollen. „Hat er sich über den Egger-Lienz gefreut?“ „Sehr.“  Das Bild hängt in der Wohnküche und nimmt sich hervorragend aus, hab ich gesagt, mein Grossvater hat dafür eigens einen Platz im Herrgottswinkel geschaffen, Jesus am Kreuz hat er ein wenig höher gehängt, die Muttergottesstatue zur Seite gerückt und dein Bild ist jetzt der absolute Blickfang in der Wohnküche meines Grossvaters. Tizians kummervolle Miene hat sich kurzzeitig ein wenig aufgehellt, aber schon nach kurzer Zeit hat er den Kopf  wieder hängen lassen. Was ist los, hab ich gefragt, ist was mit Lene, aber er hat bloss die Achseln gezuckt. Natürlich  ist was mit Lene, hab ich gesagt, ist sie wieder über Nacht weggeblieben,  das ist doch nichts Neues, daran solltest du dich eigentlich schon gewöhnt haben. Um ihn ein wenig aufzuheitern, habe ich das Fernsehgerät eingeschaltet. Obwohl der Bericht vom letzten überlebenden Pandabärenpärchen südlich der chinesischen Mauer wirklich spannend war, hat sich Tizians düstere Laune nur wenig gebessert. Tags darauf bin ich Zeuge einer überaus unerfreulichen Szene zwischen Tizian und Lene geworden. Sie hat Tizian beschimpft und einen Versager geheissen. Als sie schliesslich türenschlagend weggegangen ist, um Brand Modell zu stehen, habe ich Tizian wieder einmal überreden wollen, sich von ihr zu trennen. Aber davon hat er nichts hören wollen, ganz im Gegenteil, beinahe hätte er deswegen mit mir Streit angefangen. Sie kann mich ruhig einen Versager nennen, hat er gesagt und die Achseln gezuckt, sie hat ja recht. Die nächste Zusammenankunft mit unserem Auftraggeber ist wie nicht anders zu erwarten, äusserst unerfreulich verlaufen. Du kannst dich jetzt nicht mehr lang mit diesem Tizian herumschlagen, hat Susanna gesagt, die Zeit drängt, mach endlich Nägel mit Köpfen, bring das Ganze zu einem Ende, so oder so. Wenn dir partout nichts einfällt, dann darf ich dich bitten, dein Augenmerk auf Brunos Vorschlag zu richten. Bruno hat nämlich einen ganz praktikablen Einfall gehabt, hat sie zu unserem Auftraggeber gesagt, er hat vorgeschlagen, Tizian ein schwerwiegendes Delikt unterzuschieben, auf diese Weise landet er am sichersten im Gefängnis. Natürlich hat unser Auftraggeber sofort interessiert den Kopf gehoben. Das ist es, hat er gesagt und mich auffordernd angeschaut, worauf warten wir noch, das ist das Ei des Kolumbus, schieben Sie ihm ein schwerwiegendes Delikt unter, das ist die Lösung des Rätsels, das hätte Ihnen auch selbst einfallen können. Aber ich habe den Kopf geschüttelt und auf die zu erwartenden Schwierigkeiten verwiesen. Ausserdem habe ich mir seinerzeit ausgebeten, dass man mir nur Fälle zuteilt, bei denen körperliche Gewalt nicht im Spiel ist, hab ich zu Susanna gewendet gesagt und bin nach dieser Unterredung, wie es sich von selbst versteht, in deprimiertestem Zustand nach Hause gegangen. Ich habe eine ganze Weile in der Fibel für den Privatdetektiv und im Strafgesetzbuch gelesen und mir Tizians Arglosigkeit vor Augen geführt. Weil an Schlaf ohnehin nicht zu denken war, habe ich meine Wohnung nochmals verlassen und bin am Wehrkanal spazierengegangen. In einer Stadt wie der unseren sind nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr allzu viele Leute unterwegs, ausserhalb der Geschäftsstrassen und entlang des Wehrkanals trifft man keine Menschenseele, ich bin mehrmals stehengeblieben, habe in das schnell fliessende Wasser geschaut und eine erste vage Idee entwickelt. Als mir Lene am Tag darauf zufällig beim Wehrkanal über den Weg gelaufen ist, hat die Idee Gestalt angenommen. Sie war in blendender Laune, hat mich überschwenglich begrüsst und sich nach Tizians Befinden erkundigt. Ich habe ihr skandalöses Verhalten Tizian gegenüber mit keinem Wort erwähnt, gute Laune vorgetäuscht und ihr mehrere heitere Anekdoten, meine neue Nase betreffend, erzählt. Das hat sie über die Massen amüsiert, mehrmals hat sie mich ein Schlitzohr genannt, schliesslich hat sie mir, um ihrem Vergnügen irgendwie Ausdruck zu verleihen, einen derben Stoss in die Magengegend versetzt. Weil der Stoss ganz unerwartet gekommen ist, bin ich gestrauchelt und wäre um ein Haar rücklings in den Kanal gefallen. Das hat meiner Idee eine wichtige Facette hinzugefügt. Wir haben uns in bester Laune voneinander verabschiedet und ich bin in Gedanken nach Hause gegangen. Schon am Abend desselben Tages war mein Plan im Grossen und Ganzen ausgereift. Gleich am nächsten Morgen habe ich mich bei Susanna melden lassen. Ich habe sie mit dem Resultat meiner Überlegungen bekannt gemacht, wenn aller Verdacht auf Tizian gelenkt wird,  kann eigentlich nichts schiefgehen, hab ich gesagt, dass Tizian von Lene schlecht behandelt wird, weiss jedermann, es ist doch denkbar, dass er eines Tages die Nerven verliert, und Lene, sagen wir, in den Wehrgraben stösst, das ist eine Affekthandlung, wie sie jeden Tag vorkommt. Susanna hat sich alles durch den Kopf gehen lassen und meine Idee nicht gänzlich verworfen. Das könnte gehen, hat sie gesagt und einen Stadtplan aus ihrer Schublade gezogen. Wir haben den Verlauf des Wehrkanals studiert und Susanna hat zu bedenken gegeben, dass, falls Lene es bis zu Fussgängerbrücke schafft, ihr dort jemand zu Hilfe kommen könnte. Wenn sie eine sehr gute Schwimmerin ist, schafft sie es ohne weiteres bis zur Fussgängerbrücke, hat Susanna gesagt, also muss sie betäubt werden, allerdings mit einem Mittel, das man hinterher bei der Obduktion nicht mehr nachweisen kann. Zu einem Betäubungsmittel würde ich also in jedem Fall raten, hat sie nach einigem Nachdenken gesagt. Sie hat mir Bruno zur Unterstützung angeboten, aber ich habe abgelehnt. Ich will alles alleine machen, hab ich gesagt, ich brauche keine Unterstützung, schon gar nicht die von Bruno. Susanna hat mir einen skeptischen Blick zugeworfen und den Kopf über meine Starrköpfigkeit geschüttelt. Du musst dich nicht immer mit deinen Kollegen vergleichen, hat sie gesagt, du hast andere Qualitäten, du solltest dir wegen der Kollegen keine grauen Haare wachsen lassen. Sie hat mir nochmals zugeredet, mir doch von Bruno helfen zu lassen, aber ich habe abgelehnt. In der Folge hat sich herausgestellt, dass das falsch war. Ich habe zwar alles geschickt eingefädelt und die Injektion mit dem Betäubungsmittel mehrere Tage in meiner Jackentasche herumgetragen, sie Lene aber nicht verabreichen können. Am zweiten Tag wäre die Gelegenheit an sich günstig gewesen, denn ich bin allein mit ihr in Tizians Wohnung zurückgeblieben, während Tizian Wein für uns alle geholt hat, aber Lene war bereits ziemlich betrunken und hat sich, kaum dass sich die Wohnungstür hinter Tizian geschlossen hat, auf dem Sofa neben mir breit gemacht. Sie hat mir ihre Arme um den Hals geschlungen und mir versichert, dass ich ihr trotz meiner neuen Nase nach wie vor sehr gut gefalle. Ich habe alle Hände voll zu tun gehabt, sie mir vom Leib zu halten und an die griffbereite Spritze in meiner Jackentasche keinen Gedanken verschwendet. Susanna hat mich hinterher auf meinen Fehler hingewiesen. Ganz falsch, hat sie gesagt und mir einen resignierten Blick zugeworfen, wieder einmal gänzlich falsch. Du hättest sie möglichst nahe heranlassen sollen, dann hättest du ihr das Betäubungsmittel in einem geeigneten Moment ganz problemlos injiziieren können, man kann sich nicht immer alle Leute vom Leib halten, hin und wieder muss man jemanden auch ganz nahe heranlassen, das ist eine Grundregel in unserer Branche. Sie hat mich irritiert, hab ich gesagt, andauernd hat sie meine neue Nase aufs Tapet gebracht und neugierige Fragen gestellt, ich habe mich um eine unverfängliche Erklärung für meine neue Nase bemüht, hätte ich ihr etwa die Wahrheit sagen sollen? Das hat Susanna in ihre Schranken gewiesen, nein, natürlich nicht, hat sie gesagt, reden wir nicht mehr davon, ich rufe jetzt Bruno und du weihst ihn in alles ein, er wird die Sache mit Tizian zu Ende bringen. Du befasst dich inzwischen in aller Ruhe mit deinem nächsten Fall. Diesmal habe ich Brunos Hilfe akzeptiert, obwohl die hämischen Bemerkungen der Kollegen nicht gerade leicht zu ertragen waren. Susanna hat mir mehrmals hat beispringen müssen, Béla arbeitet bereits an seinem nächsten Fall, hat sie gesagt, nur aus diesem Grund nimmt er Brunos Hilfe an, sein nächster Fall ist äusserst diffizil und bedarf genauester Vorbereitung. Neidlos räume ich ein, dass Bruno gute Arbeit geleistet hat, allerdings bin ich ihm mehrmals mit wertvollen Hinweisen beigesprungen. Unter anderem habe ich ihm empfohlen, während der Aktion Tizians Mantel zu tragen. Ich habe den Mantel an mich gebracht und ihn Bruno ausgehändigt. Sieh zu, dass er möglichst viele Spuren eines Kampfes aufweist, hab ich gesagt, tauch ihn nach Möglichkeit in den Wehrgraben und wenn sich hinterher Lenes Haare, Lenes Speichel und dergleichen auf dem Mantel nachweisen lassen, umso besser. Bruno hat sich diesbezüglich an meine Anweisungen gehalten und ich habe den ramponierten Mantel wieder in Tizians Garderobe gehängt. Die Aktion selbst ist komplikationslos über die Bühne gegangen. Hat neun Leben gehabt, die Alte, hat Bruno hinterher gesagt, hat sich eine ganze Weile über Wasser gehalten, aber etwa hundert Meter von der Fussgängerbrücke entfernt haben sie die Kräfte dann doch verlassen und sie ist untergegangen wie ein Stein. Ihre Leiche wird demnächst beim Kraftwerk angeschwemmt werden, hat er gesagt, die Sache ist so gut wie gelaufen. Susanna hat mir ausdrücklich befohlen, mich von Tizian gänzlich fernzuhalten. Deine Aufgabe ist beendet, alles weitere ist Sache der Justiz, hat sie gesagt, du solltest dich jetzt zur Gänze auf deine nächste Aufgabe konzentrieren. Aber ich habe mich nicht an ihre Anweisung gehalten. Als Tizian mich eines Abends angerufen hat und mit von Lenes Verschwinden erzählt hat, bin ich wider besseres Wissen doch zu ihm gegangen. Ausgerechnet an diesem Abend ist die unbekannte Frauenleiche, von der man schon seit ein paar Tagen in den Zeitungen lesen hat können, als Lene identifiziert worden. Das Zusammentreffen hätte unglückseliger nicht sein können. Ich habe Tizians Wohnung nur für einen Augenblick betreten und ihm gerade erklärt, dass ich nicht lange bleiben kann, da hat die Polizei an der Tür geläutet. Tizian hat durch den Türspion geschaut, die Achseln gezuckt, um mir signalisiert,  dass er keine Ahnung hat, wer das da draussen sein könnte und die Tür geöffnet. Ich habe gleich gewusst, dass es sich nur um Kriminalbeamte handeln kann und mich an ihnen vorbeizwängen wollen, aber die Beamten haben mich aufgehalten und nach meinem Ausweis gefragt. Tizian war gänzlich arglos und hat die Beamten nach Lene gefragt. Meine Freundin Lene ist seit drei Tagen verschwunden, hat er zu den Beamten gesagt, ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte, ich mache mir Sorgen. Der Polizist hat seine Blicke schweifen lassen und Tizians Mantel schärfer ins Auge gefasst. Das Revers hat Lene, die sich natürlich heftig gewehrt hat, heruntergerissen, der Saum des Mantels war steif, weil Bruno darauf geachtet hat, ihn in das Wasser zu tauchen, auch die Geldbörse Lenes hat sich ins Tizians Manteltasche befunden, sodass die Beweise, alles in allem, erdrückend gewesen sind. Der Beamte hat den Mantel vom Haken genommen und sorgfältig in Papier eingeschlagen. Dann hat er bei seiner Dienststelle angerufen und meinen Namen deponiert. Wir sind wartend im Vorzimmer gestanden, während der Beamte telefoniert hat. Ach so, hat er dann zu seinem Kollegen gesagt, und das Telefon vom Ohr genommen, das ist der von der Detektei, der kann gehen. Ich bin Tizians Blick ausgewichen und habe einen Moment lang nicht gewusst, was jetzt zu tun ist. Der Beamte hat mir meinen Ausweis entgegengestreckt und mit dem Kopf auf die offene Tür gewiesen. Ich bin hinausgegangen und auf dem Treppenansatz stehengeblieben. Nach einer Weile bin ich langsam die Treppe hinuntergestiegen und habe meine neue Nase betastet, die mir noch immer Schmerzen bereitet, vor allem bei Wetterumschwüngen oder starken nervlichen Belastungen. Natürlich habe ich Tizians Gerichtsverhandlung beigewohnt. Er ist blass und in sich gekehrt auf der Anklagebank gesessen, hat kaum geantwortet und seiner Sache damit natürlich noch mehr geschadet. Das Urteil war hart, weil die Geschworenen der Argumentationslinie des Anklägers gefolgt sind. Ich habe der Verhandlung bis zum Ende verfolgt und mir fest vorgenommen, Tizians Haftbedingungen zu verbessern. Ich habe einige Zeit darauf verwandt, Erkundigungen über die Haftbedingungen einzuziehen, bin dann bis zum Gefängnisdirektor durchgedrungen und habe mich bei ihm nach Tizians Befinden erkundigt. Der Direktor hat mir die Haftbedingungen im allgemeinen erläutert und zugegeben, dass er natürlich nicht im Detail wissen kann, wie es um jeden einzelnen seiner Häftlinge steht. “Dazu müsste man das Wachpersonal befragen.” Er hat einen Aufseher holen lassen, einen, der Tizian jeden Tag zu Gesicht bekommt und ihn zu Tizians Verhalten befragt.  “Wie verhält sich unser Neuzugang? Kooperiert er?”  Der Aufseher hat den Kopf geschüttelt, ein Polaroidfoto aus seiner Jackentasche gezogen und es auf den Schreibtisch des Direktors gelegt. “ Da sehen Sie selbst. Wir haben ihn für die Küche eingeteilt, aber dort ist er untragbar. Wir werden ihn woanders unterbringen müssen.” Ich habe mich vorgebeugt und meine Augen angestrengt. Der Direktor hat das Foto zuvorkommend ein Stück in meine Richtung geschoben. Ich habe den Aufseher fragend angeschaut. Er hat die Achseln gezuckt.  “Die Unterarme des Häftlings. Selbstverstümmelungen kommt hier bei uns laufend vor, das ist gar nichts Besonderes.” Ich habe meine Augen abgewandt und das Foto ein Stück zur Seite geschoben. Damit macht er nur auf sich aufmerksam, hat der Direktor gesagt und mir einen Kognak eingeschenkt, kein Grund zur Beunruhigung. Aber es muss schlimm um ihn stehen, wenn er es für nötig hält, sich die Unterarme mit einem schartigen Küchenmesser zu zerschneiden, hab ich gesagt und mein Glas in einem Zug leergetrunken. Der Direktor hat sich geräuspert, worauf der Aufseher seine Hand ausgestreckt und das Foto wieder an sich genommen hat. Dann haben mir die beiden auseinandergesetzt, dass in Gefängnissen anderen Gesetze herrschen. “Auch Ihr Tizian wird sich hier bei uns eingewöhnen, seien Sie ganz beruhigt.” Ich habe vorgeschlagen, ihn sinnvoller zu beschäftigen. “ Keine stupide Küchenarbeit, das ist nichts für Tizian, er ist hochsensibel, wieso lassen Sie ihn nicht malen?”   Der Direktor hat über meinen Unverstand den Kopf geschüttelt und die hohen Kosten für Pinsel, Farbe und Leinwand  ins Treffen geführt. “Und wenn ich dafür aufkomme?” “Dann ist es natürlich möglich.”  “Aber man darf ihm nicht sagen, woher die Sachen stammen” Der Direktor hat mir äusserste Diskretion zugesichert und an einem der nächsten Besuchstage bin ich ins Gefängnis gegangen, obwohl mir Susanna dringend davon abgeraten hat. “Er wird dich nicht sehen wollen.” Aber ich bin trotzdem hingegangen. Als man Tizian ins Besuchszimmer geführt hat, habe ich mich halb von meinem Sitz erhoben und gelächelt. Tizian, hab ich gesagt, ich kann dir alles erklären. Aber da hat er seinen Blick schon abgewandt gehabt, hat ihn an meinem Gesicht vorbei auf etwas schräg hinter meinem Kopf gerichtet und eine völlig gelangweilte und desinteressierte Miene an den Tag gelegt. Dann hat er auf dem Absatz kehrt gemacht und den Wärter aufgefordert, ihn wieder in seine Zelle zu bringen. Der Wärter hat ihn zwingen wollen, sich mir gegenüber an den Tisch zu setzen, aber mir war gleich klar, dass die Situation völlig verfahren ist. Es wäre das Falscheste, Tizian meine Gegenwart aufzudrängen, hab ich mir gesagt und dem Aufseher bedeutet, dass er Tizian zu nichts zwingen soll.   “Bringen Sie ihn zurück in seine Zelle, meine Gegenwart ist ihm zuwider, es war ein Fehler, hierherzukommen.”  Ich habe Susanna vom meinem missglückten Besuch bei Tizian erzählt und sie hat den Kopf über mich geschüttelt. Wenn du nur einmal auf mich hören wolltest, hat sie gesagt, natürlich will er dich nicht mehr sehen, wieso sollte er dich sehen wollen? Du hast ein falsches Spiel mit ihm gespielt, was erwartest du? Aber unser Auftraggeber ist hochzufrieden, hat Susanna gesagt und sich wohlwollend zu mir geneigt, er hat wissen wollen, wie wir vorgegangen sind, aber ich habe mich auf unsere Schweigepflicht berufen. Dann hat sie mir ganz aus eigenem Antrieb angeboten, ein paar Tage auszuspannen. “Und dann konzentrierst du dich mit voller Kraft auf deine nächste Aufgabe.“ Ich habe Susannas Angebot gerne angenommen, bin an meinen Bergsee gefahren und habe versucht, mich zu erholen. Aber die Erinnerung an Tizian hat mich keinen Augenblick verlassen, sodass ich nach drei Tagen meinen Urlaub abgebrochen habe. Susanna war nicht sonderlich überrascht, mich schon so bald wiederzusehen und hat mir einen prüfenden Blick zugeworfen. „Siehst ja ziemlich abgehalftert aus, nach wie vor.“ Dann hat die Achseln gezuckt und von meinem nächsten Fall zu reden begonnen. „Ich schlage vor, dass du dich in der Gegend niederlässt, in der man den Gesuchten zuletzt gesehen hat und die Dinge dort reifen lässt. Du hast es mit einem international anerkannten Künstler zu tun, da darf man nichts übers Knie brechen.” Ich habe mich natürlich über Susannas nahezu persönliches Interesse an dieser Sache gewundert. Sie hat die Lieder des Gesuchten, tatsächlich Ohrwürmer, eines wie das andere, von morgens bis abends auf ihrer Stereoanlage gespielt, sich als grosse Musikliebhaberin zu erkennen gegeben und mir vorgeschlagen, mit ihr gemeinsam in die Hauptstadt zu fahren und ein Musical zu besuchen.  “Damit du dich ein wenig einhören kannst und ein Gefühl dafür kriegst, was eigentlich gefordert ist.” Aber das habe ich abgelehnt und die Recherchen zu meinem neuen Fall nur zaghaft betrieben. Meine täglichen Spaziergänge habe mich immer wieder zur Strafanstalt geführt, von einer wenig befahrenen Seitenstrasse aus hat man einen guten Blick in den Gefängnishof gehabt und die Gefangenen jeden Nachmittag auf ihrem Spaziergang beobachten können. Tizian übergrosse Magerkeit und sein bleiches Aussehen haben mir zu denken gegeben und ich habe mir vorgenommen, demnächst wieder beim Gefängnisdirektor vorzusprechen. Dann habe ich eines Morgens auf meinem Schreibtisch reichlich Kartenmaterial aus der Gegend, in der man den Liederschreiber vermutet, vorgefunden. Hat dein neuer Auftraggeber vorbeigebracht, hat Susanna gesagt, er lässt fragen wann du denn nun endlich deine Arbeit aufnimmst. Ich habe die Karten pflichtbewusst durchgesehen und festgestellt, dass die in Frage kommende Region entfernter und rückständiger nicht sein könnte. Ausser ein wenig Schitourismus in den Wintermonaten gibt es dort nichts, was Fremde anlocken könnte Ich habe Susanna zu verstehen gegeben, dass ich mit ziemlicher Sicherheit erfolglos bleiben werde.  “Wenn dieser Ludwig keine Lieder schreiben will, hat er wohl seine guten Gründe. Das Ganze ist von vorneherein aussichtslos.” Susanna hat den unglaubwürdigsten Zweckoptimismus an den Tag gelegt, mich mit ein leeren Floskeln beschwichtigt und mir empfohlen, die Sache möglichst bald in Angriff zu nehmen.  “Irgendwann musst du anfangen.” Unter anderem hat mir mein Auftraggeber auch einen umfangreichen Bericht über sein gemeinsames Leben mit Ludwig zukommen lassen, ich habe pflichtbewusst versucht, alles sorgfältig durchzulesen, die nötige Konzentration aber nicht aufbringen können. Susanna hat mir nahegelegt, möglichst bald aufzubrechen, worauf wartest du denn noch, hat sie mich jeden Tag aufs Neue gefragt und meinen lahmen Ausreden noch ein wenig recherchieren zu müssen, immer weniger Glauben geschenkt. Ich habe meine Abreise Tag für Tag hinausgezögert und als man Susanna hinterbracht hat, dass ich mich jeden Tag vor der Strafanstalt einfinde und von einer Seitenstrasse aus Tizian auf seinem täglichen Spaziergang beobachte, war es mit ihrer Langmut vorbei. Sie hat mich zu sich rufen lassen und mir ernsthafte Vorhaltungen gemacht. Allzu viel habe ich zu meiner Verteidigung nicht vorbringen können, ich will bloss sehen, wie es Tizian geht, hab ich gesagt, sein Aussehen bereitet mir Sorge. Aber Susanna hat bloss unwillig den Kopf geschüttelt und ihre Stimme erhoben. Schluss damit, hat sie gesagt, du fährst morgen, am besten nimmst du den Postbus, näherst dich langsam und stimmst dich auf Land und Leute schon einmal ein wenig ein. Ich habe Einwendungen machen wollen, aber Susanna hat mir mit einer Handbewegung und bösen Blicken Schweigen geboten. Du gehst jetzt nach Hause und packst deine Sachen, hat sie gesagt und in einigen Tagen erwarte ich einen ersten Lagebericht. Susanna war an diesem Tag ernsthaft aufgebracht und jeder Widerspruch sinnlos. Erst beim Abschied hat sie sich notdürftig beruhigt und mich dann doch noch ihr bestes Pferd im Stall genannt.

 

 

12
Weiss

 

Der Busbahnhof ist der tristeste Ort, den man sich vorstellen kann. Ich habe Susanna noch überreden wollen, mir eines von den Dienstfahrzeugen zuzuteilen, ist es denn unbedingt nötig, dass ich mit dem Bus fahre, hab ich gefragt, aber Susanna hat bloss den Kopf geschüttelt. Kein Auto, hat sie gesagt, du sollst doch ein Verwirrspiel spielen,  der Gesuchte hat, soweit man weiss, ebenfalls kein Auto zur Verfügung, berücksichtige das bitte. Also habe ich mich am nächsten Morgen gottergeben auf dem Busbahnhof eingefunden. Die Busfahrt hat endlos lange gedauert, ich habe mehrmals in immer kleinere und immer schäbigere Busse umsteigen müssen und erst spätabends mein vorläufiges Ziel erreicht. Mein vorläufiges Ziel ist ein ärmliches Dorf gewesen, in dem sich natürlich zuallererst die Quartierfrage gestellt hat. Nur ein einziges der schäbigen Wirtshäuser hat Zimmer vermietet, aber der Preis war horrend und ich habe gezögert. Ich gebe Ihnen ohnehin das Jagdherrenzimmer, hat der Wirt gesagt und mich einer genauen Musterung unterzogen, das ist mein grösstes und schönstes, ein grösseres und schöneres werden Sie hier nirgendwo finden. Die Stiege hinauf und die erste Tür links, hat er gesagt und mir den Schlüssel ausgehändigt. Das Zimmer war eisig kalt und spärlich möbliert, allerdings hat sich das einzige Fenster zur Dorfstrasse geöffnet, und da das Kommen und Gehen auf der Dorfstrasse dem Detektiv die allerwichtigsten Hinweise liefern kann, habe ich beschlossen, fürs erste hierzubleiben. Ich habe mit dem Wirt ein Arrangement bezüglich der Mahlzeiten getroffen und seine neugierigen Fragen geschickt pariert.  “Ich bin Schriftsteller, Meine Grosseltern stammen aus dieser Gegend, mir geht es vor allem um den Lokalkolorit für meinen nächsten Roman.” Gleich am nächsten Tag habe ich begonnen, das Terrain zu sondieren und bin, um die Dinge auf irgendeine Weise in Gang zu bringen, von Haus zu Haus gegangen. Ich habe geklopft, habe mich höflich vorgestellt, natürlich mit einem nichtssagenden Namen, wie ihn in dieser Gegend jeder dritte getragen hat und habe die Leute gebeten, mich ganz genau ins Auge zu fassen. Bin ich Ihnen schon einmal begegnet, hab ich gefragt, sooft sich eine Tür vor mir geöffnet hat, bin ich Ihnen in letzter Zeit über den Weg gelaufen, und wenn ja, wann und wo. Wissen Sie, wo ich wohne, hab ich gefragt, oder haben Sie mit mir etwa gar ein langdauerndes Gespräch geführt, wenn ja, repetieren Sie es bitte. Aber die Dorfbewohner sind denkbar unkooperativ gewesen und haben mir mehr als einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen. Hin und wieder habe ich mich vor bissigen Hunden nur durch einen raschen Sprung über den Gartenzaun in Sicherheit bringen können und die Aktion schliesslich als völlig erfolglos beenden müssen. Manchmal habe ich den Eindruck gehabt, als ob ich in der Gegend nicht ganz unbekannt wäre, tatsächliche Anhaltspunkte hat es aber keine gegeben. Ich habe das auch Susanna mitgeteilt und sie hat mir allergrösste Vorsicht empfohlen. Verwisch deine Spuren, hat sie geschrieben, wechsle den Wohnort, sei möglichst unstet. Also habe ich nach einiger Zeit im Nachbardorf Quartier bezogen, bin nach Ablauf einer Woche ins nächste Dorf gewechselt und habe auf diese Weise innerhalb von zwei Monaten etwa ein halbes Dutzend Dörfer abgegrast. Dann habe ich allerdings ein Quartier gefunden, das mir rundum zugesagt hat und habe Susannas Anweisung, möglichst unstet zu sein, in den Wind geschlagen. Das Wirtshaus war gut in Schuss und einigermassen gepflegt und die Wirtin eine freundliche Frau,  zu der ich gleich Vertrauen gefasst habe. Ich habe mit ihr ein Arrangement bezüglich meiner Mahlzeiten getroffen, Woche um Woche verstreichen lassen und nichtssagende Berichte nach Hause geschickt. Als der erste Schnee gefallen ist, habe ich eine bis dahin nicht bemerkbare Unruhe unter den Einheimischen festgestellt und mich bei meiner Zimmerwirtin nach den Ursachen erkundigt. Sie hat den Kopf über meine Unkenntnis geschüttelt. “Demnächst beginnt die Wintersaison. Dann erkennen Sie unser Dorf nicht mehr wieder.” Tatsächlich hat man in den nächsten Tagen und Wochen eine Reihe von Hausmädchen, Kellnern und Schilehrern ankommen sehen und die Dorfstrasse hat sich zunehmend belebt. Aber erst mit der Ankunft der Schaustellertruppe sind die Dinge wirklich in Gang gekommen. Ich habe die Wagen der Schausteller die Dorfstrasse entlangfahren sehen und die Wirtin gefragt, was es mit diesen Leuten für eine Bewandtnis hat. Das sind die Schausteller, die im Sporthotel für Unterhaltung sorgen, hat sie gesagt, die bunten Abende im Sporthotel sind weithin bekannt, da wird was geboten, das müssen Sie sich unbedingt ansehen. Tatsächlich haben die Schausteller Quartier im Sporthotel bezogen und angeblich sogleich mit den Proben begonnen. Das Sporthotel ist das einzige Hotel in weitem Umkreis gewesen, das auch für Gäste mit etwas gehobeneren Ansprüchen gedacht war und die Attraktion in der Gegend. Ich habe gleich erkannt, dass sich mir durch die Ankunft der Schausteller eine echte Chance bietet und habe beschlossen, mich ihnen zu nähern. Vielleicht gelingt es mir, mich irgendwie einzuschleichen, als Ensemblemitglied hätte ich viele Möglichkeiten, meine Erkundigungen voranzutreiben, hab ich mir gedacht und meine nächsten Schritte erwogen. Natürlich habe ich die Ankunft der Schausteller in meinem wöchentlichen Bericht nicht unerwähnt gelassen und auch Susanna hat mich aufgefordert, sofort entsprechende Kontakte zu knüpfen. Das Sporthotel ist ausserhalb des Dorfes ein wenig erhöht auf einem Hügel gelegen und war vom Dorf aus in einem etwa zwanzigminütigen Fussmarsch zu erreichen. Im Winter gibt es einen Shuttle, hat die Wirtin tröstend gesagt, etwa ab Mitte Dezember. Fährt denn nicht wenigstens hin und wieder ein Bus, hab ich gefragt und über die schlechten Verkehrsverbindungen räsoniert. Schliesslich hat mir die Wirtin ihr Fahrrad angetragen. Weil ich aber schon seit ewigen Zeiten nicht mehr mit einem Fahrrad gefahren bin und gänzlich ungeübt war, ist es gleich bei meiner ersten Ausfahrt zu einer kleinen Kollision gekommen. Ich habe auf einem abschüssigen Strassenstück nicht mehr rechtzeitig bremsen können und bin von einem Wagen, der zum Glück nur langsam unterwegs war, seitwärts in den Strassengraben geschleudert worden. Der Zufall hat es gewollt, dass der Wagen einem der Schausteller gehört hat. Ich habe ihn gleich wiedererkannt und es für richtig gehalten, ein wenig verkrümmt im Strassengraben liegenzubleiben. Der Schausteller ist erschreckt nähergekommen und hat sich besorgt über mich gebeugt. Kommen Sie, ich helfe Ihnen, hat er gesagt, mich unter den Achseln gepackt und hochgezogen. Haben Sie Schmerzen, hat er gefragt, kann ich Sie irgendwohin fahren? Zurück ins Dorf, hab ich gesagt, wenn Sie so freundlich sein wollen. Wir haben das nur geringfügig verbogene Rad meiner Wirtin in den Kofferraum geladen, ich selbst habe mich mit ausgestrecktem linkem Bein vorsichtig auf dem Rücksitz plaziert und auf der Fahrt zurück ins Dorf hat sich ein zwangloses Gespräch ergeben. Vor allem habe ich versucht, herauszubekommen, ob bei der Truppe Not am Mann ist und man auf der Suche nach willigen und anstelligen Aushilfskräften eventuell auch auf Leute wie mich zurückgreifen würde. Aber leider hat sich sehr bald herausgestellt, dass mein neuer Bekannter seinerseits erst vor kurzem zur Truppe gestossen ist. Ich bin vollauf damit beschäftigt, mich zu integrieren, hat er gesagt, das ist alles andere als einfach, weil ich in der Hackordnung noch ganz unten bin, und das Betriebsklima denkbar schlecht ist, vor allem mit der Dompteuse ist nicht gut Kirschen essen, falls Sie daran denken, sich bei der Truppe zu bewerben, kann ich Ihnen nur abraten. Was ist Ihre Aufgabe, hab ich gefragt und erfahren, dass es sich bei dem jungen Mann um den Jongleur handelt. Ich jongliere mit Bällen und Tellern, hat er gesagt, wenn Sie mir bei der Probe zusehen wollen, sind Sie herzlich willkommen. Ich werde gleich morgen kommen, wenn Sie erlauben, hab ich gesagt und ihn angewiesen, direkt vorm Eingang des Wirtshauses zu halten. Ich war ein wenig besorgt wegen der Wirtin, weil ihr Rad einige Schäden davongetragen hat und habe es für richtig gehalten, zu hinken und auf meine Abschürfungen hinzuweisen. Die Wirtin hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, sich über meinen Zustand besorgt gezeigt und kein Aufhebens von ihrem Rad gemacht. Sie hat meine Schürfwunden fachmännisch verbunden, mich mit Suppe und warmen Getränken versorgt und mir nahegelegt, einen Arzt zu konsultieren. Das habe ich abgelehnt.  “So eine Schürfwunde heilt von ganz allein.“ Und gleich am nächsten Morgen habe ich mich im Hotel eingefunden. Ich habe nach meinem neuen Bekannten, dem Jongleur, gefragt und mich von einer Dame mittleren Alters zu ihm führen lassen. Er war erfreut, mich zu sehen, hat sich nach meinen Verletzungen erkundigt und mich dann aufgefordert, mit ihm zur Morgenarbeit zu kommen. Sehen Sie uns ruhig zu, hat er gesagt, niemand hat etwas dagegen, wenn Sie still dasitzen und zusehen. Ich habe mich also bescheiden in die letzte Reihe gesetzt, die Morgenarbeit  der Künstler in allen Details verfolgt und war  sehr angetan von den einzelnen Darbietungen. Faszinierend, hab ich zu meinem neuen Bekannten, dem Jongleur, gesagt, ich würde viel dafür geben, bei euch mitmachen zu dürfen, gibt es denn gar keine Möglichkeit, irgendeine Möglichkeit muss es doch geben. Aber er hat mir keine Hoffnung machen können und mich an den Spassmacher und seinen Gesellen verwiesen. Welches Kunststück kannst du, hat mich der Geselle des Spassmachers gefragt und  ich habe zugeben müssen, dass ich gar keines kann. Aber man kann mich für alle niedrigen Hilfsdienste einsetzen, hab ich gesagt, weil ich anstellig bin und rasch lerne. Ausserdem habe ich zwanzig Jahre Bühnenerfahrung. Leute für die niedrigen Hilfsdienste haben wir mehr als genug, hat der Spassmacher gesagt, die rekrutieren wir teilweise aus den Einheimischen, da ist unser Bedarf gleich null. Und  Bühnenerfahrung allein nützt gar nichts, hat sein Geselle gesagt, wenn du nichts zum besten gibst. Ich habe aber nicht lockergelassen und die beiden haben mich schliesslich an die Dompteuse verwiesen. Frag sie einfach, hat der Spassmacher gesagt, vielleicht braucht sie Assistenz, sie hat ihre Pudelnummer ohnehin nicht im Griff. Also habe ich mich der Dompteuse vorgestellt, ihr mein Anliegen vorgetragen und sie hat wenigstens nicht von vorneherein abgelehnt. Ich brauche aber jemanden, der mit Tieren umgehen kann, hat sie gesagt, kannst du mit Tieren umgehen, vor allem mit Hunden? Eher nein, hab ich wahrheitsgetreu gesagt, eher ist es so, dass mir Hunde Angst machen. Aber doch nicht meine kreuzbraven Pudel, hat sie gesagt und eine kleine Mutprobe vorgeschlagen. Sie hat mich vor den Hundezwinger geführt und auf einen Hundeknochen gedeutet. Siehst du den Hundeknochen dort hinten in der Ecke, hat sie gefragt, hol ihn heraus, wenn es dir gelingt, lasse ich dich mitmachen. Aber schon bei Öffnen der Tür sind die Pudel kläffend auf mich eingestürmt, haben an meinen Hosenbeinen gezerrt und versucht, mich in den Knöchel zu beissen. Ich habe mich eilends wieder in Sicherheit gebracht und die Dompteuse hat den Kopf geschüttelt und eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Das wird nichts, hat sie gesagt, ich kann dich nicht brauchen. Ich habe meine Enttäuschung offen gezeigt und sie hat mir schliesslich geraten, mich an den Direktor zu wenden. Er kommt ohnehin öfters in das Dorfwirtshaus und geht bei der Wirtin sozusagen ein und aus, hat sie gesagt, probiere es am besten gleich heute abend. Abends ist unser Direktor meistens ganz umgänglich. Also bin ich in mein Quartier zurückgekehrt und habe die Wirtin nach ihrem Verhältnis zum Direktor befragt.    “Ich höre, Sie kennen den Direktor der Schaustellertruppe, stimmt das?“  Tatsächlich hat sich herausgestellt, dass die Wirtin mit dem Direktor der Schaustellertruppe den vertrautesten Umgang pflegt. Er kommt regelmässig und sitzt an den vorstellungsfreien Abenden in meiner Wirtsstube, hat sie gesagt, an den vorstellungsfreien Abenden. Ich habe sie gebeten, mich mit ihm bekannt zu machen und sie hat es mir zugesagt. Seien Sie pünktlich beim Abendessen, hat sie gesagt, dann will ich sehen, was sich machen lässt. Ich habe mich abends also auf die Minute pünktlich in der Wirtsstube eingefunden und die Wirtin hat mich mit einem Augenzwinkern auf den Herrn am Extratisch hingewiesen. Gestatten Sie, hab ich gesagt und der Herr hat freundlich genickt. Aber bitte, hat er gesagt, nehmen Sie Platz. Ich habe bezüglich meiner Mahlzeiten ein Arrangement mit der Wirtin getroffen, das sich ganz gut bewährt hat. Ich bekomme eine warme Mahlzeit pro Tag, ob ich sie mittags oder abends einnehme, bleibt mir überlassen. Der Herr hat mir freundlich guten Appetit gewünscht  und ich habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihn gefragt, ob er zur Schaustellertruppe gehört. Er hat einen resignierten Gesichtsausdruck an den Tag gelegt und genickt. “Ich bin der Direktor.” Tatsächlich ist es ganz einfach gewesen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, unter anderem hat er mir von den Schwierigkeiten, mit denen er seitens der Hotelleitung zu kämpfen hat, erzählt, sie wollen, dass wir zwei Vorstellungen geben, hat er gesagt, eine abends und eine nachts, aber das überfordert meine Leute, ich muss den Personalstand knapp halten, ich bilanziere gern ausgeglichen. Das war das einzige Engagement, das zu kriegen war, hat er gesagt, die Wintermonate sind eine harte Zeit für uns, bis Anfang März müssen wir hierbleiben, denn keiner von uns hat ein Winterquartier. Jahr für Jahr wird es schwieriger mit den Engagements und jetzt haben wir auch noch August verloren, August war unser Flagschiff, hat der Direktor gesagt und trübsinnig in seinem Teller gestarrt. Was hat August zum besten gegeben, hab ich den Direktor gefragt, schon in der Absicht, mich als Ersatz anzubieten. “Er war der Feuerschlucker.” Als uns die Wirtin das Dessert gebracht hat, haben wir unser Gespräch kurzzeitig unterbrochen. Was das Essen betrifft, hat man wirklich keinen Grund zur Klage, hat der Direktor gesagt und ich habe ihm zugestimmt. Er hat seinen Blick nicht von den ausladenden Hüften der Wirtin lösen können und anerkennend genickt. “Man ist hier nicht schlecht versorgt, da haben Sie recht” Dann hat er sich augenzwinkernd zu mir geneigt. “Ausserdem ist sie wirklich eine Erscheinung, hab ich recht, diese Hüften.” Ich habe die Augenbrauen hochgezogen und mich abgewandt. Gespräche dieser Sorte führe ich grundsätzlich nicht, obwohl mir das die Erledigung meiner Aufträge schon oftmals erschwert hat, aber auch ich habe meine Grundsätze, von denen ich nicht abweiche. Ich habe meinen Teller etwa zur Hälfte geleert, ihn dann zur Seite geschoben und den Direktor rundheraus gefragt, was ein Feuerschlucker können muss.  “Es ist das Einfachste von der Welt. Man giesst sich ein wenig von dieser spezifischen Flüssigkeit in den Mund, atmet kräftigt aus und entzündet die Atemluft.” Ich habe einen Augenblick nachgedacht und mir dann ein Herz gefasst. “Sie könnten es mit mir versuchen” Der Direktor hat mir sein Erstaunen nicht verhehlt. “ Mit Ihnen? Ja haben Sie denn Bühnenerfahrung?” Er hat sich vorgebeugt und mich prüfend ins Auge gefasst. Dann hat er mich aufgefordert, aufzustehen und ein paar Schritte auf und ab zu gehen. “Ich kann nur jemanden nehmen, der bühnentauglich ist, das verstehen Sie sicher” In der Folge habe ich natürlich nicht unerwähnt gelassen, dass ich nahezu zwanzig Jahre lang auf der Bühne gestanden bin, fast alle grossen Rollen gespielt habe und also auf jede Menge Bühnenerfahrung verweisen kann. Das hat naturgemäss das Interesse des Direktors geweckt. Er hat alles über meine Zeit am Theater wissen wollen und ich habe ihm wahrheitsgetreu geantwortet. Mir war klar, dass von diesem Gespräch alles abhängt und habe mir grosse Mühe gegeben, glaubwürdig und sympathisch zu wirken. Als der Direktor ein wenig nähergerückt ist und die Wirtin aufgefordert hat, für jeden von uns ein Glas Wein zu bringen, habe ich gewusst, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Er hat mich gefragt, was mich denn hierher, in diese gottverlassene Gegend, verschlagen hat und natürlich war ich auch darauf vorbereitet.  “Ich habe meinem Wohnort für eine Weile den Rücken kehren müssen, aus persönlichen Gründen.” Der Direktor hat verständnisvoll genickt, mich nochmals gemustert und mir dann seine Hand entgegengestreckt. “Wenn Sie wollen, sind Sie mit dabei. Wir wollen keine Zeit verlieren, das beste ist, Sie kommen gleich morgen zur Probenarbeit.“ Ich habe meine Freude offen gezeigt und versprochen, mir alle nur erdenkliche Mühe zu geben. Schon gut, hat der Direktor gesagt, ich gebe arbeitswilligen Leuten immer gerne eine Chance, seien Sie aber bitte pünktlich, ich lege allergrössten Wert auf Pünktlichkeit, wer pünktlich ist, hat bei mir von vorneherein einen grossen Stein im Brett. Das kann ich nur bestätigen, hat die Wirtin gesagt, die unser Gespräch aufmerksam verfolgt und mir mehrmals aufmunternd zugenickt hat, auf Pünktlichkeit legt der Herr Direktor den allergrössten Wert, aber ich werde Sie morgens wecken, verlassen Sie sich diesbezüglich ganz auf mich. Sie ist hinter dem Tresen hervorgekommen, hat sich neben den Direktor gesetzt und wir haben noch eine Weile über dieses und jenes geplaudert. Dann bin ich aufgestanden, habe den beiden eine gute Nacht gewünscht und bin auf mein Zimmer gegangen. Dort habe ich mich ans Fenster gestellt und eine ganze Weile auf die menschenleere Dorfstrasse geschaut. Ich habe die vergangenen Wochen rekapituliert und das Gefühl gehabt, einen grossen Schritt weitergekommen zu sein.

 

 

13
Silberweiss

 

Ohne den energischen Weckruf der Wirtin hätte ich am nächsten Morgen sicher verschlafen. Sie hat mir ein kräftigendes Frühstück vorgesetzt und mich zur Eile angetrieben. Auf keinen Fall dürfen Sie an Ihrem ersten Tag zu spät kommen, hat sie gesagt, der erste Eindruck zählt doppelt und stellt die Weichen für alles Spätere. Also  habe ich den Weg ins Sporthotel nahezu im Laufschritt zurückgelegt und bin ausser Atem, aber gerade noch rechtzeitig im Probenraum erschienen. Der Direktor hat einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr geworfen, anerkennend genickt und mich dem Ensemble als Ersatz für August vorgestellt, dass ich den Jongleur, den Spassmacher, seinen Gesellen und die Dompteuse bereits gekannt habe, hat nichts weiter zur Sache getan und ist auch nicht zur Sprache gekommen. Das ist Béla, hat der Direktor gesagt, ihr alle wisst, dass Augusts Abgang eine riesige Lücke hinterlassen hat, jeden Abend werden wir auf das schmerzlichste daran erinnert, ihr wisst auch, dass sich ein ernstzunehmender Ersatz bis jetzt nicht gefunden hat und  ich denke, dass wir Béla eine Chance geben können. Er hat mehr als zwanzig Jahre Bühnenerfahrung und könnte zu einer wertvolle Stütze des Ensembles werden. In der Folge habe ich mich einer scharfen Musterung unterziehen müssen, man hat mich von allen Seiten begutachtet, was mir aber nichts ausgemacht hat, meine Bühnenvergangenheit ist mir einmal mehr zugute gekommen und ich habe mich unter den prüfenden Blicken des Ensembles ganz wohl befunden. Der Geselle des Spassmachers hat mir zugezwinkert und ermutigend genickt. Fürs erste wird Béla bei den Proben bloss zusehen, damit er mit den Abläufen ein wenig vertraut wird, hat der Direktor abschliessend gesagt und mich aufgefordert, irgendwo im Zuschauerraum Platz zu nehmen. Aber eine Frau mittleren Alters, neben der Dompteuse übrigens die einzige Frau im Ensemble, hat den Kopf geschüttelt und energisch Einspruch erhoben.  “Man muss ihn gleich drannehmen, dann sieht man, ob er was taugt. Sonst kann man ihn gleich wieder wegschicken.” Sie hat mich aufgefordert, aufzustehen, nochmals ein paar Mal auf und abzugehen und mich dabei interessiert gemustert.  Dann hat sie einen jüngeren Mann herbeigewunken und ihn aufgefordert, sich meiner anzunehmen. Das war Augusts rechte Hand, hat sie zu mir gesagt, betrachte ihn als deinen Lehrmeister und befolge alle seine Anweisungen. Der junge Mann hat mich mit sich hinter die Bühne genommen und mir die Grundbegriffe des Feuerschluckens erläutert. Wieso machst dus nicht selber, hab ich nach einer Weile gefragt, wenn du so genau weisst, wie es geht, dann kannst dus ja auch selber machen. Aber der junge Mann hat betrübt den Kopf geschüttelt und eine resignierte Handbewegung gemacht. Ich bin nicht bühnentauglich, hat er gesagt, ich komme nicht an beim Publikum, mir fehlt es an Bühnenpräsenz, notfalls assistiere ich, das ist aber auch schon alles. Ich habe seinen Erläuterungen also weiter aufmerksam zugehört, leider hat sich, als wir darangegangen sind, die Theorie in die Praxis umzusetzen, herausgestellt, dass es mit meiner Nervenstärke nicht allzu weit her ist. Mein Lehrmeister hat mir die richtigen Gesten und die einzig mögliche Körperhaltung wieder und wieder vorgezeigt, aber ich bin ausserstande gewesen, angesichts des hoch auflodernden Feuers ruhig stehenzubleiben und immer wieder zurückgewichen. Nicht zurückweichen, hat der junge Mann gerufen,  nicht zurückweichen,  wenn du zurückweichst, ist die Bühnenwirkung gleich Null, auf keinen Fall zurückweichen, eher noch einen Schritt vortreten. Er hat sich eine ganze Weile mit mir herumgeplagt und seine Erläuterungen mit immer grösserer Lautstärke vorgetragen, aber ich habe mich immer weniger konzentrieren können und bin schliesslich selbst an den einfachsten Aufgaben gescheitert. Nach einer Weile war offenkundig, dass es mir unmöglich ist, ruhig stehenzubleiben, sobald sich das Feuer entzündet. Der junge Mann hat den Direktor gerufen und ihm zu verstehen gegeben, dass er mit seinem Latein am Ende ist, hat seine Requisiten eingesammelt und mir einen verächtlichen Blick zugeworfen. Aus dem wird nie ein Feuerschlucker und auf keinen Fall haben wir in ihm einen Ersatz für August, hat er gesagt und sich zum Gehen gewandt. Einen Augenblick habe ich gefürchtet, dass man mich wieder wegschickt, aber ich habe beim Direktor bereits einen Stein im Brett gehabt. Er hat mir beruhigend zugenickt und sich dann an das gesamte Ensemble gewandt.  “Wir werden einen andere Aufgabe für unseren neuen Kollegen finden. Béla hat eine gute Bühnenpräsenz, es wäre ein grosser Fehler, wenn wir uns das nicht zunutze machen. Solche Leute kann man immer brauchen. Einstweilen wird er Samson ein wenig zur Hand gehen” Dazu muss man vielleicht wissen, dass Samsons Entfesselungsnummer einer der Höhepunkte des Programms war.  Ich habe mich besonders eifrig und lernwillig gegeben und Samson hat mir als erstes gezeigt, wie man die Knoten schürzt. Du musst das Publikum glauben machen, dass ich mich niemals aus eigener Kraft befreien werde können, hat er gesagt, ein wenig Theatralik schadet keinesfalls, du musst es spannend machen, wenn du das Feuer an die Zündschnur legst. Ich habe mich redlich bemüht, Samson war soweit ganz zufrieden mit mir, ich habe bereits an der Abend- und der Nachtvorstellung teilnehmen dürfen und bin erst spätabends in mein Quartier zurückgekehrt. Die Wirtin hat mir die Tür geöffnet, mir mein warm gehaltenes Essen vorgesetzt und mich aufgefordert, ihr alles haargenau zu erzählen. Ich kenne zwar den Direktor, hat sie gesagt, aber keines von den Ensemblemitgliedern hat sich jemals bei mir sehen lassen, wie sieht die Dompteuse aus, hat sie gefragt, hat sie schöne Kostüme und wie finden Sie die Seiltänzerin? Die Wirtin muss bei Laune gehalten werden, hab ich mir gedacht, habe ihr alles möglichst genau beschrieben und in der Folge erstmals von Ludwig gesprochen. Ich bin auf der Suche nach einer ganz bestimmten Person, hab ich gesagt, ich rechne auf Ihre Hilfe. Wie sieht die Person aus, hat die Wirtin gefragt. Wie ich, hab ich gesagt, hören Sie sich um, ich vermute sie hier in der Nähe. Die Wirtin hat sich einmal mehr als verständige Frau erwiesen und Näheres über meine Mission hören wollen, aber es versteht sich, dass ich den wahren Sachverhalt nur angedeutet habe. Nach ein paar ausweichenden Sätzen habe ich meine Müdigkeit ins Treffen geführt und sie gebeten, mich morgen verlässlich zu wecken. Dann bin ich auf mein Zimmer gegangen, habe den wackeligen Tisch in die Mitte des Raumes geschoben, unter die schwache Deckenlampe, und bin darangegangen, Susanna von der neuesten Entwicklung der Dinge in Kenntnis zu setzen. Ich etabliere mich zusehends, habe ich geschrieben, alles entwickelt sich wunschgemäss, seit heute bin ich Mitglied einer Schaustellertruppe, über Ludwig weiss ich noch nichts. Das Schreiben eines detaillierten Briefes erfordert viel Zeit, als die Wirtin an meine Tür geklopft und mich auf die späte Uhrzeit aufmerksam gemacht hat, war ich erstaunt, dass es schon weit nach Mitternacht war. Sie sollten nicht die halbe Nacht aufbleiben und Briefe schreiben, hat die Wirtin gesagt, was schreiben Sie denn da so eifrig, hat sie gefragt und sich ganz nahe zu mir gestellt, sicher einen Liebesbrief. Sie hat sich in den Hüften gewiegt und meinen Arm gestreift, aber ich bin ein wenig zur Seite gerückt. Das ist ein Bericht für meine Chefin, hab ich gesagt, das Abfassen von detaillierten Berichten ist keine Kleinigkeit und erfordert viel Konzentration. Verstehe, hat die Wirtin gesagt, verständig genickt und mein Zimmer wieder verlassen. An einem der nächsten Tage hat sie mir eine zusätzliche Lampe aufs Zimmer gebracht, damit Sie sich nicht die Augen verderben, wenn Sie spätnachts Ihre Berichte schreiben, hat sie gesagt. Bereits nach zwei Tagen hat sie mir Nachrichten von Ludwig gebracht. Was Ihren Doppelgänger betrifft, so habe ich mich bereits umgehört, hat sie gesagt, es scheint, dass er sich im Nachbardorf aufgehalten hat. Er hat im Gasthof gewohnt. Vor etwa zwei Monaten. Sie ist sichtlich stolz auf ihre erfolgreiche Recherche gewesen und es hat mir leid getan, sie enttäuschen zu müssen. Das war ich doch selbst, hab ich kopfschüttelnd gesagt, ich selbst habe vor etwa zwei Monaten im Nachbardorf gewohnt. Die Wirtin hat ein betretenes Gesicht gemacht, versprochen, ihre Nachforschungen fortzusetzen und einen Brief aus ihrer Schürzentasche gezogen. Jetzt hätte ich es fast vergessen, hat sie gesagt, da habe ich ja Post für sie. Tatsächlich hat mir mein detaillierter Bericht einen erfreuten Antwortbrief Susannas eingebracht. Unser Auftraggeber ist hochzufrieden, hat sie geschrieben, er setzt allergrösste Hoffnungen in dich. Sie hat mich ihr bestes Pferd im Stall genannt und ‚Das Glück ist beim Tüchtigen‘ unten an den Briefrand geschrieben, einen ihrer Leitsprüche, denen sie eine nicht zu unterschätzende, moralische Wirkung zuschreibt. Ich habe Susannas Brief mehrmals durchgelesen, dann die Fibel für den Privatdetektiv zu Rate gezogen und mir die unter Punkt fünf angeführten Hinweise zur Auffindung Verschwundener gut eingeprägt. Am nächsten Tag bin ich beim Direktor vorstellig geworden. Er hat mich freundlich empfangen, mir meine Bitte um einen oder zwei freie Tage aber rundweg abgeschlagen. Unser gutes Einvernehmen ist mit einem Mal gefährdet gewesen. Ganz ausgeschlossen, hat er gesagt, schlag dir das aus dem Kopf, wenn du zur Truppe gehören möchtest, musst du dich an die Spielregeln halten, keines der Ensemblemitglieder bekommt einen freien Tag während der Spielzeit, ist die Spielzeit erst einmal vorbei, könnt ihr ohnehin Urlaub haben, soviel ihr wollt. Mitgefangen, mitgehangen, hat er gesagt und gelacht. Ich bin aber hartnäckig geblieben, habe wichtige Gründe geltend gemacht und war mehr als einmal nahe daran, den Direktor ernsthaft gegen mich aufzubringen. Schliesslich hat er klein nachgegeben.   “Na schön, morgen haben wir vorstellungsfrei, wenn du deine Angelegenheiten morgen erledigen kannst, bin ich einverstanden, übermorgen bist du aber bitte wieder auf deinem Posten.“ Also habe mir gleich am nächsten Tag das Rad der Wirtin ausgebeten und eine Runde durch alle Dörfer gemacht. Ich habe mich überall sehen lassen, bin ich Ihnen in den letzten Tagen begegnet,  habe ich die Dorfbewohner immer wieder gefragt, und wenn ja, wann und wo. Endlich hat man mich an ein Wirtshaus am Ortsrand gewiesen. Der Wirt hat letztens einen Fremden beherbergt, haben die Dorfleute gesagt, wir wissen nicht, wen, fragen Sie dort. Ich habe das Haus also umgehend aufgesucht und dem Wirt meine obligate Frage gestellt.   „Bin ich Ihnen in den letzten Tagen begegnet? Oder habe ich etwa gar bei Ihnen gewohnt?” Er hat einen flüchtigen Blick auf mich geworfen und den Kopf geschüttelt.  “Ich erinnere mich nicht.“ Nach einer Weile habe ich meine Recherche als erfolglos abgebrochen, mich auf die Bank an der Bushaltestelle gesetzt, die Fibel für den Privatdetektiv aus meiner Brusttasche gezogen und sie an beliebiger Stelle aufgeschlagen. Eine wichtige Anlaufstelle kann der Gemeindearzt sein, ist auf Seite sieben zuoberst gestanden und machen Sie sich in jedem Fall mit der Sprechstundenhilfe bekannt, das kann wichtige Erkenntnisse bringen. Ich habe also in der Folge die Ordination des Dorfarztes ausfindig gemacht, habe mich unter die Einheimischen gemischt und eine ganze Weile im Sprechzimmer warten müssen, bis man mich vorgelassen hat. Der prüfende Blick des Arztes hat mir zu denken gegeben. Habe ich Sie vor nicht allzu langer Zeit konsultiert, hab ich ihn gefragt, und wenn ja, weswegen? Aber der Arzt hat nach einem weiteren prüfenden Blick den Kopf geschüttelt,  meinen Puls gemessen, sich auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen und jede Auskunft verweigert. Ich ersuche Sie, mir über meinen Gesundheitszustand Auskunft zu geben, hab ich gesagt, aber er hat mich aufgefordert, seine Ordination zu verlassen. Dann sagen Sie mir wenigstens, wo ich wohne, hab ich gesagt, das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt. Aber er hat schon die Tür ins Wartezimmer geöffnet und den nächsten Patienten zu sich gerufen. Die Fibel für den Privatdetektiv empfiehlt Hartnäckigkeit in Fällen wie diesen. Also habe ich mich der Sprechstundenhilfe einem Vorwand genähert und sie durchaus zugänglich gefunden. Um ein unbeschwertes Klima zu schaffen, habe ich ihr von meiner Zugehörigkeit zur Schaustellertruppe erzählt und es hat sich ausgezeichnet getroffen, dass sie sich für das Sporthotel interessiert hat. Da wohnen ja die allerfeinsten Leute, hat sie gesagt und alles über die Kleider der weiblichen Gäste hören wollen. Die Farbe der heurigen Saison ist Rot, hab ich gesagt, ausserdem trägt man Schleifen und Pelzbesätze, ganz im Vertrauen, manchmal tut man des Guten ein wenig zuviel. Ich habe sie aufgefordert, sich nächstens eine der Vorstellungen anzusehen und ihr freien Eintritt in Aussicht gestellt, dann habe ich mich ein wenig vorgeneigt und meine Stimme gesenkt.    “Ich war vor kurzem hier in der Praxis, habe ich recht? Ihr Chef hat sich auf die ärztliche Schweigepflicht berufen und mich weggeschickt, aber ich muss wissen, ob ich da war und wann.”  Die Sprechstundenhilfe hat gezögert, sich dann aber einen Ruck gegeben. “Das ist etwa zwei Wochen her.“  Ich habe ihr auseinandergesetzt, dass es Situationen geben kann, wo man als verantwortungsvoller Mitmensch über papierene Vorschriften hinwegsehen sollte. „Lassen Sie mich meine Karteikarte sehen. Es gibt Situationen, wo man die ärztliche Schweigepflicht hintanstellen muss.“  Daraufhin hat sie eine Weile in ihren Karteikarten gekramt, schliesslich eine hervorgezogen und die Eintragungen gelesen. “Sie haben Schwierigkeiten mit den Ohren. Diagnose Tinnitus. Nehmen Sie Ihre Medikamente?“  Ich habe den Kopf geschüttelt. „Nicht immer.“ Wo wohne ich, hab ich gefragt, und meine Augen angestrengt, um Ludwigs Adresse, die zuoberst auf der Karteikarte gestanden ist, lesen zu können. Es ist mir nicht gelungen und ich habe mich entschlossen, der Sprechstundenhilfe reinen Wein einzuschenken.  „ Die Dinge sind komplizierter, als es den Anschein hat. Manchmal vergesse ich einfach, wo ich wohne, partielle Amnesie, haben Sie Nachsicht.”  Sie hat einen Augenblick gezögert, sich dann aber vorgebeugt und ihre Stimme gesenkt. “Sie wohnen unten am Fluss, beim stillgelegten Sägewerk.”     Ich habe die Sprechstundenhilfe gebeten, mir zu erklären, wie ich das Sägewerk finde und sie hat mich aufgefordert, bis Dienstschluss zu warten. “Dann zeige ich es Ihnen.” Ich bin also noch eine ganze Weile im Wartezimmer sitzengeblieben. Einmal hat der Arzt seinen Kopf aus dem Behandlungszimmer gesteckt und mich misstrauisch betrachtet. Ich habe in Ihrer Sprechstundenhilfe eine alte Bekannte wiedergefunden, hab ich gesagt, so ein Zufall muss gefeiert werden, wir gehen ins Dorfwirtshaus, wollen Sie mitkommen? Der Arzt hat die Brauen hochgezogen, den Kopf geschüttelt und sich nicht mehr blicken lassen. Nachdem der letzte Patient abgefertigt war, hat die Sprechstundenhilfe noch eine ganze Weile mit dem Einordnen der Karteiblätter zugebracht, erst knapp vor Einbruch der Dunkelheit haben wir die Ordination verlassen. Sie ist mit mir ein Stück die Dorfstrasse entlanggegangen, hat an einem abschüssigen Strassenstück Halt gemacht und die Hand ausgestreckt. “Sehen Sie dort unten?” Tatsächlich hat man in einiger Entfernung, direkt an einem Gebirgsbach, ein kleines, von hohen Bretterstapeln umgebenes Haus ausmachen können. Dort unten ist es, hat die Sprechstundenhilfe gesagt, der Verwalter hat Ihnen das Häuschen zwar zur Verfügung gestellt, will Ihnen aber keinen Schlüssel für das Eingangstor überlassen, deswegen müssen Sie jedesmal den Zaun überklettern, vor den Hunden sind Sie ja wohl ohnehin auf der Hut, denn die sind auf den Mann dressiert. Dann hat sich die Sprechstundenhilfe von mir verabschiedet und angekündigt, am nächsten Samstag zur Abendvorstellung ins Hotel kommen zu wollen. Eine Karte wird für Sie an der Rezeption bereitliegen, hab ich gesagt, unter Ihrem Namen, wie war doch Ihr Name? Olga, hat sie gesagt, aber meine Freunde nennen mich Dolly. Dann hat sie sich endgültig zum Gehen gewandt. Ich bin bis an den äussersten Rand der abschüssigen Strasse gegangen und habe meine Augen angestrengt, aber keinen Lichtschein hinter den Fenstern des Häuschens ausmachen können. Ich habe mich den Drahtzaun genähert, als mein Blick auf die grossen schwarzen Hunde gefallen ist, habe ich mich an die Warnung der Sprechstundenhilfe erinnert. Die Hunde sind in der Nähe des Hauses gelegen, haben die Köpfe gehoben und jede meiner Bewegungen gebannt verfolgt. Das hat mich veranlasst, meine Suche nach Ludwig noch ein wenig aufzuschieben und ich habe mich beeilt, in mein Dorf zurückzukommen. Als ich mich durch den Wirtshausflur in mein  Zimmer schleichen wollte, hat sich beinahe sofort die Tür zur Schankstube geöffnet. Ein Lichtschein ist durch den dunklen Türspalt gefallen und ich bin beschämt im dunklen Flur stehengeblieben. Ah, da haben wir ja den Ausreisser, hat die Wirtin gesagt, es ist schon nach Ihnen gefragt worden, wo waren Sie denn so lange? Sie sehen ziemlich abgehalftert aus, hat sie gesagt und mir einen prüfenden Blick zugeworfen. Dann hat sie mich in die Gaststube gelotst, mir zu essen gegeben und sich alles haarklein erzählen lassen. Ich bin erfolglos geblieben, hab ich gesagt, will es aber bald nochmals versuchen. Sobald mir der Herr Direktor erneut einen freien Tag zubilligt, hab ich gesagt. Die Wirtin hat mir ihrer Skepsis nicht hinter dem Berg gehalten und tatsächlich habe ich mir mit meinen Wünschen nach einem weiteren freien Tag den Zorn des gesamten Ensembles zugezogen. Vor allem der Dompteuse waren meine Wünsche ein Dorn im Auge, sie hat mich vor versammelter Truppe beschimpft, mir Unkollegialität vorgeworfen und mich einen Herumtreiber geheissen. Tatsächlich ist mein Verbleib im Ensemble durchaus nicht gesichert gewesen, immer wieder hat es Proteste und ungerechtfertigte Vorwürfe gegen mich gegeben, aber der Direktor hat mir die Stange gehalten und nicht zugelassen, dass man mich hinausekelt. Dass ich das nur der Fürsprache der Wirtin zu verdanken habe, ist mir natürlich klar gewesen. Längere Zeit hat keiner vom Ensemble mit mir zu tun haben wollen, sogar Samson hat sich meine Mithilfe verbeten, nicht nötig, hat er gesagt, als ich ihm mit seinen Knoten helfen wollte, ich komme zurecht. Der einzige, der hin und wieder ein freundliches Wort für mich übrig gehabt hat, ist der Jongleur gewesen, also habe ich ihm des öfteren assistiert. Er war im Begriff, ein neues Programm mit Tellern und Bällen zu erarbeiten und ich bin ihm in allem zur Hand gegangen, habe die Tellerscherben weggeräumt, neue Teller geholt, die Bälle aus allen Winkeln des Saales zusammengesucht und mich ihm allmählich unentbehrlich gemacht. Er hat mich gedrängt, mich um die Dompteuse zu bemühen, du musst dich auf guten Fuss mit ihr stellen, hat er gesagt, auf die Dauer kannst du dich im Ensemble nicht halten, wenn sie weiterhin gegen dich intrigiert. Biete ihr an, ihre Hunde spazierenzuführen, hat er gesagt, damit stimmst du sie am ehesten milde. Ich habe mir die Ratschläge des Jongleurs selbstredend zu Herzen genommen, und mich nach Kräften um die Dompteuse bemüht, obwohl das alles andere als einfach gewesen ist. Ich  habe mehrfache Zurückweisungen hinnehmen müssen, bin aber beharrlich geblieben. Der Tag, an dem sie mir erstmals erlaubt hat, ihre Hunde spazierenzuführen, ist mir heute noch gegenwärtig. Sie hat mir Leinen und Beisskörbe ausgehändigt und mir eine Reihe von Verhaltensmassregeln mit auf den Weg gegeben.  „Und pass bloss auf, dass meinen Lieblingen nichts passiert, sonst reisse ich dir den Kopf ab” Nun ist es seit jeher so, dass ich Hunde nicht besonders leiden kann. Schon das Anlegen der Leinen und Beisskörbe hat mich vor kaum zu lösende Probleme gestellt. Fünf Leinen für fünf Hunde, das führt unweigerlich zu chaotischen Zuständen, hab ich mir gedacht, aber eine Weile ist alles glatt gegangen und ich bin mit den Hunden die Dorfstrasse auf und ab promeniert. Dann aber hat das Unglück seinen Lauf genommen. Auf der gegenüberliegenden Seite ist ein hässlicher gefleckter Schäferhund aus einem der Häuser gelaufen, der Lieblingshund der Dompteuse hat sich losgerissen und die anderen sind ihm natürlich gefolgt. Du hättest dir die Leinen ums Handgelenk schlingen müssen, du Idiot, hat die Dompteuse später zu mir gesagt. Tatsächlich habe ich die Leinen nur lose in der Hand gehalten, so dass es den Hunden ein leichtes war, sich loszureissen und die Dorfstrasse hinunterzujagen. Obwohl mir die Dorfbewohner zu Hilfe gekommen sind, hat es eine ganze Weile gedauert, die Tiere wieder einzufangen. Eines von ihnen, noch dazu der absolute Liebling der Dompteuse, ein weisser Pudel namens Cindy, ist von dem Schäferhund tatsächlich gebissen worden. Ich habe versucht, zu verheimlichen, was sich auf unserem Spaziergang zugetragen hat und zu einer Notlüge gegriffen. „Cindy ist mit Haakon in Streit geraten.“ Ich habe genügend Proben miterlebt, um zu wissen, dass die Hunde der Dompteuse sich gegenseitig an die Kehle gehen, wann immer sich eine Gelegenheit bietet. Als der Dompteuse aber der wahre Sachverhalt zu Ohren gekommen ist, ist sie eilends zu Direktor gelaufen und hat ihm ein Ultimatum gestellt. “Entweder er oder ich.” In der Folge hat mich der Direktor hat mich zu sich gerufen und ein ernstes Gespräch unter vier Augen mit mir geführt. Du weiss, dass ich deiner Quartiergeberin gerne eine Gefallen tue, hat er gesagt, nur deswegen bist du hier, das ist dir hoffentlich klar, aber ich kann nichts tun, was der Truppe ernsthaft schadet. Wenn es dir nicht gelingt, dich einigermassen zu integrieren, muss ich mich von dir trennen, so leid es mir tut. Es versteht sich, dass ich nach diesem Gespräch aufs äusserste deprimiert nach Hause gegangen bin. Zu allem Überfluss ist an diesem Tag einen mahnender Brief Susannas gekommen, die Wirtin hat ihn mir auf mein Zimmer gebracht, hat sich über meine Schulter gebeugt und mitgelesen. Unser Auftraggeber möchte über jeden deiner Schritte informiert werden, hat Susanna geschrieben, du schreibst gänzlich nichtssagende Briefe, müssen wir annehmen, dass deine Ermittlungen stocken? Hast du bereits Kontakt mit dem Gesuchten, beschattest du ihn, wie gehst du vor? Ich habe den Brief beiseite gelegt und den Kopf in die Hände gestützt. Die Wirtin hat mich ihres Mitgefühls versichert und sich über Susannas fordernden Ton gar nicht genug mokieren können.  “Die macht sichs aber leicht, von ihrem bequemen Schreibtisch aus.“ Einen Augenblick hab ich daran gedacht, dass es ein Fehler sein könnte, die Wirtin an allen meinen Problemen teilhaben zu lassen, dann aber meine Bedenken beiseite geschoben. In diesem rauhen Landstrich und in meiner Lage brauche ich nichts dringender als wenigstens eine Verbündete, der ich rückhaltlos trauen kann. Ich habe den Brief zusammengefaltet, ihn zu den übrigen in die Mappe getan und beschlossen, der Wirtin mein Dilemma zu schildern. Dass sie ein so besonders gutes Verhältnis zum Direktor der Schaustellertruppe hat, hat dabei natürlich eine Rolle gespielt. Mein Hintergedanke war, dass sie vielleicht nochmals ein gutes Wort für mich einlegt.  “Ich bin in einer Zwickmühle, ich müsste überall zugleich sein. Einerseits muss ich tagsüber bei der Truppe sein, andererseits müsste ich im Nachbardorf recherchieren. Das Nachbardorf ist höchstwahrscheinlich tatsächlich der Wohnort des Gesuchten, ich kenne bereits das Haus, in dem er wohnt, bis jetzt ist es mir aber noch nicht gelungen, ihn zu treffen. Womöglich verliere ich seine Spur neuerlich, und was dann?” Die Wirtin hat einen Augenblick über mein Problem nachgedacht und auch gleich eine Lösung parat gehabt. “Verlassen Sie die Truppe einfach. Die Truppe ist Ihnen doch nur wichtig, weil Sie annehmen, dass sie dem Gesuchten wichtig ist, stimmts?”  Ich habe eingeräumt, dass es sich tatsächlich so verhält, aber auch zu erkennen gegeben, dass ich meine Strategie nach wie vor für richtig halte. “Mit meiner Zugehörigkeit zur Truppe kann ich Ludwig vielleicht ködern.“ Die Wirtin hat eine abwehrende Handbewegung gemacht. Wer weiss, ob das funktioniert, hat sie gesagt, Sie kennen ihn ja noch nicht einmal, vielleicht stimmt gar nicht, was man Ihnen von ihm erzählt hat. Warten Sie den nächsten vorstellungsfreien Tag ab und machen Sie dann Nägel mit Köpfen. Also bin ich am nächsten vorstellungsfreien Tag erneut in Ludwigs Dorf gefahren, habe von der Anhöhe hinunter auf das Häuschen geschaut und die Hunde, wachsam wie immer, davorliegen sehen. Ich bin mehrmals um das Grundstück herumgeschlichen, aber es ist rundum von dem hohen Drahtzaun begrenzt gewesen, ausserdem sind mir die Hunde  innerhalb des Zauns ständig gefolgt und haben mich nicht aus den Augen gelassen. An ein Übersteigen des Zauns war nicht zu denken und ich bin unverrichteterdinge nach Hause gefahren. Die Wirtin hat meine düstere Miene richtig gedeutet, gleich erkannt, dass meine Unternehmung erfolglos geblieben ist und mich mit aufmunternden Worten trösten wollen. Aber ich war einsilbig, bin nur kurz in der Gaststube geblieben und habe meinen Tee mit auf mein Zimmer genommen, obwohl die Wirtin es gar nicht gerne sieht, wenn jemand Speisen und Getränke mit in sein Zimmer nimmt. Aber ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass ich Ruhe brauche, ich kann sonst keinen klaren Gedanken fassen, hab ich gesagt und die Teetasse vorsichtig hinauf in mein Zimmer getragen. Dann habe ich mich in die Lebensgeschichte Ludwigs vertieft, wie ich es schon so oft getan habe. Arbeiten Sie mit dem einzigen Trumpf, den Sie haben, der Ähnlichkeit, hat mein Auftraggeber schon bei unserem ersten Gespräch gesagt, jeder erschrickt doch, wenn er plötzlich und unerwartet seinem Double gegenübersteht, und Ludwig ist ganz besonders schreckhaft, vielleicht sondert er daraufhin ab, was wir von ihm wollen, sozusagen aus Schreck, es gibt zahlreiche Beispiele im Tierreich. Ich habe bis spät nachts gegrübelt, lange nicht einschlafen können und schliesslich beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Beim Frühstück war ich freundlicher denn je zur Wirtin, habe auf alle ihre Fragen ausführlich geantwortet und sie gebeten, für mich ein gutes Wort beim Direktor einzulegen. Ich muss den heutigen Tag wieder für meine Recherchen verwenden, habe ich zu ihr gesagt, es geht nicht anders, wenn jemand nach mir fragt, verleugnen Sie mich, sagen Sie, ich wäre krank oder sowas. Seien Sie ganz unbesorgt, hat die Wirtin gesagt, verlassen Sie sich gänzlich auf mich. Ich habe das Rad der Wirtin aus dem Schuppen geholt, die Strecke zum Nachbardorf in Rekordzeit zurückgelegt und als ich die Anhöhe erreicht habe, von der aus man den besten Blick auf Ludwigs Häuschen hat, gleich gesehen, dass mir die Umstände dieses Mal günstig sind.

14
Elfenbein

 

Ludwig ist  auf der Türschwelle des Wächterhäuschens gesessen und hat sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die Sonne gehalten. Ich habe mich leise genähert, mich vergewissert, dass die Hunde nirgendwo zu sehen sind und den Zaun überklettert. Ludwig ist erschreckt aufgesprungen, obwohl ich ihm zugerufen habe, dass er sich nicht zu beunruhigen braucht. Alles ist ganz harmlos, beruhigen Sie sich, hab ich gerufen, aber Ludwig ist ins Haus gelaufen und hat die Türe von innen versperren wollen. Ich habe aber meinen Fuss in den Türspalt gestellt und  obwohl Ludwig sich von innen gegen die Tür gestemmt hat, hat er gegen mich keine Chance gehabt. Ich habe die Tür aufgedrückt und ihn beiseitegeschoben. Beunruhigen Sie sich nicht, hab ich gesagt und die Tür sorgfältig hinter mir geschlossen, Sie haben nichts zu befürchten, meine Absichten sind die allerbesten. Ich habe mich verstohlen umgesehen, das Häuschen hat keinen Vorraum gehabt, man ist aus dem Freien direkt in die Küche getreten, seitlich hat eine Tür in die Schlafkammer geführt und weil sie offengestanden ist, habe ich einen Blick auf Ludwigs ungemachtes Bett werfen können. Wer sind Sie, was wollen Sie, hat er gefragt und mir ängstliche Blicke zugeworfen, niemand darf den Zaun überklettern, habe Sie denn keine Angst vor den Hunden? Doch hab ich gesagt, aber was mich hierher führt, ist wichtiger. Dann habe ich das Foto, das Ludwig bei der Premiere seines erfolgreichsten Musicals zeigt, vor ihn hingelegt und einen legeren Ton angeschlagen. „Bist du das?“ Ludwig hat das Foto nur mit einem flüchtigen Blick gestreift. „Möglich, warum?“ „Weil man mich mit dir verwechselt und mir übel mitgespielt hat“ Am erschrockenen Gesichtsausdruck Ludwigs habe ich erkannt, dass meine Strategie die richtige ist. Alle möglichen Leute sind hinter dir her, die zwielichtigsten Figuren suchen nach dir, hab ich gesagt, ich will dir helfen, deswegen bin ich gekommen. Sieh mich an, hab ich gesagt und ihn gezwungen, seinen Blick auf mich zu richten. Als Ludwig mich schärfer ins Auge gefasst hat, ist er einen Schritt zurückgewichen. Ich habe zufrieden genickt. Wir könnten gemeinsame Sache machen, hab ich gesagt, wir könnten deine Verfolger ein für allemal vom Hals schaffen, aber dazu müssen wir an einem Strang ziehen. Ludwig hat gezögert, mir misstrauische Blicke zugeworfen und an seinen Nägeln gekaut. Wollen wir uns im Spiegel ansehen, hat er nach einer Weile gefragt, ich habe noch nie jemanden getroffen, der mir so ähnlich sieht, wer sind Sie? Das tut weiter nichts zur Sache, hab ich gesagt, du kannst Béla und du zu mir sagen. Ich habe mich neben ihn gestellt, an der Eingangstür ist ein halbblinder, kleiner Spiegel gehangen, wir haben uns anschauen wollen und sind mit den Köpfen aneinandergestossen. Dein  Haar ist anders als meines, hat Ludwig gesagt, aber ich trage meistens meine karierte Mütze. Ich höre absolut, hat er nach einer Weile gesagt, du etwa auch? Ich habe den Kopf geschüttelt. Keine Rede davon, hab ich gesagt, aber ich male nach Zahlen. Ich habe, wie es die Fibel für den Privatedetektiv empfiehlt, meine Blicke unauffällig schweifen lassen und dabei den Papierkorb in der Ecke schärfer ins Auge gefasst. Er war bis obenhin voll mit zusammengeknüllten Papieren, die mir sehr nach Notenblättern ausgesehen haben. Sind das alles Notenblätter, hab ich gefragt und mich dem Papierkorb genähert. Aber Ludwig hat mich am Arm gepackt und festgehalten. Wie hast du mich gefunden, hat er gefragt und den Druck um meinen Arm verstärkt, ich habe noch nie so ein gutes Versteck gehabt und war ganz sicher, dass mich hier niemand finden wird, hat mich jemand verraten? Die Sprechstundenhilfe, hab ich wahrheitsgemäss geantwortet, aber ich habe sie hereingelegt, sie hat mich für dich gehalten, du musst dir deswegen keine Gedanken machen. Wenn wir zusammenarbeiten, wird mich öfters jemand für dich halten, das muss dich nicht weiter beunruhigen. Ludwig hat eine Weile nachgedacht, dann hat sich seine Miene weiter verdüstert. Wer garantiert mir, dass du mich nicht auch verrätst, hat er gefragt und nun war es Zeit, meinen zweiten Trumpf, meine Zugehörigkeit zur Schaustellertruppe, aufs Tapet zu bringen. Frag meine Freunde von der Schaustellertruppe, hab ich gesagt, sie werden dir sagen, dass ich vertrauenswürdig bin und einen Freund niemals verrate. Geh ins Sporthotel und frag sie. Beinahe sofort haben sich Ludwigs Wangen gerötet, er hat aufgehört, an seinen Nägeln zu kauen, sich zu mir gebeugt und Näheres über die Schausteller wissen wollen. Während ich über den Jongleur, den Spassmacher und seinen Gesellen und die Dompteuse geredet habe, habe ich mich dem überquellenden Papierkorb genähert. Tatsächlich sind  die zusammengeknüllten Papierknäuel nichts anderes als eng beschriebene Notenblätter gewesen. Dass mich diese Entdeckung in äusserste Aufregung versetzt hat, versteht sich. Vielleicht geht es nur darum, die Papiere einzusammeln, zu glätten und meinen Auftraggebern vorzulegen, hab ich mir gedacht, vielleicht ist bereits der ganze Papierkorb voll von zündenden Melodien und ich habe meinen Auftrag schon so gut wie erledigt. Komm mit mir, hab ich zu Ludwig gesagt und ihm einen aufmunternden Stoss versetzt, meine Stellung in der Schaustellertruppe ist zwar keine besonders bevorzugte, aber ich setze mich dafür ein, dass sie dich auch mitmachen lassen, oder, noch besser, du gehst einfach an meiner Stelle hin, das merken die gar nicht. Ludwig hat noch ein paar Einwendungen gemacht , ist dann aber doch darangegangen, seine Sachen zu packen, hat aus einem der Küchenschränke einen grossen Sack gezogen und alle seine Habseligkeiten hineingeworfen. Ich habe ihm amüsiert zugeschaut, anfangs war er mit grossem Elan bei der Sache, allmählich ist er immer langsamer geworden, schliesslich hat er seine Arme sinken lassen. Aber wo werde ich wohnen, hat er gefragt, sobald ich weggehe, ist das Wächterhäuschen verloren, das hat mir der Verwalter ausdrücklich gesagt, sobald du weggehst, ist unsere Vereinbarung null und nichtig, hat er gesagt, ich kann doch nicht das Häuschen mutwillig aufs Spiel setzen. Ich habe einen beruhigenden Ton angeschlagen und ihm die Zukunft in den rosigsten Farben dargestellt. Ich trete dir mein Zimmer im Gasthof ab, hab ich gesagt, ich habe das komfortabelste Zimmer im Gasthof, du wirst zufrieden sein. Und wo wohnst du dann, hat Ludwig gefragt. Irgendwas wird sich finden, hab ich gesagt, ich habe nicht umsonst bei der Wirtin einen Stein im Brett, sie wird mir ein anderes Zimmer geben. Ich habe die Freundlichkeit der Wirtin eigens betont  und nochmals meine Zugehörigkeit zur Schaustellertruppe ins Treffen geführt. Schliesslich hat Ludwig seine grossen Sack oben zugebunden und zum Aufbruch gedrängt. Gegen die Nachtluft hat er sich eine sehr auffällige karierte Haube schräg auf den Kopf setzen wollen, aber ich habe ihm bedeutet, dass er die Haube mir geben soll. Ab heute soll man mich für dich halten, hab ich gesagt, wir wollen ein Verwirrspiel spielen, da kommt es auf jedes Detail an. Das hat Ludwig eingeleuchtet, er hat mir die Haube eigenhändig auf den Kopf gesetzt und in die richtige Lage gerückt. Dann hat er sich ein letztes Mal umgesehen, in alle Schränke und Schubladen geschaut, immerhin habe ich eine ganze Weile hier gewohnt, hat er gesagt, ich möchte nicht etwas Wichtiges vergessen und nochmals zurückkommen müssen. Der Verwalter wird wütend sein, wenn ich mich einfach aus dem Staub mache, hat er gesagt, hoffentlich findet er nicht heraus, wo ich mich aufhalte und kommt und stellt mich zur Rede. Ich laufe nämlich immer weg, hat er gesagt und mir einen besorgten Blick zugeworfen, ich verspreche hoch und heilig, zu bleiben, bleibe aber nur eine Weile und laufe dann weg. Er hat die Tür einen Spalt geöffnet und nach den Hunden Ausschau gehalten. Wir müssen leise sein, hat er geflüstert, die Zwingertür steht weit offen. Wenn uns die Hunde wahrnehmen, kommen wir niemals bis zum Zaun. Das tut der Verwalter absichtlich, hat er geflüstert, er will mich am Weggehen hindern. Ludwig hat sich auf Zehenspitzen vorwärtsbewegt und mich angewiesen, es ihm gleichzutun. Tatsächlich sind wir ungeschoren über den Zaun gelangt, obwohl das rasche Klettern Ludwig ziemlich angestrengt hat. Er ist weniger behende als ich, hab ich mir gedacht, das wird ihm bei der Truppe einige Minuspunkte eintragen, vor allem die Dompteuse legt grössten Wert auf körperliche Durchtrainiertheit und wird sich über meinen vermeintlichen Leistungsabfall mokieren. Ich habe erhebliche Schwierigkeiten für Ludwig vorausgesehen und beschlossen, ihn zu körperlicher Ertüchtigung anzuregen. Dann habe ich ihn geheissen, sich auf den Gepäckträger des Fahrrads zu setzen, sich an mir festzuhalten und bin kräftig in die Pedale getreten. Auf dem Dorfplatz wäre es beinahe zu einer unangenehmen Begegnung gekommen, aber weil ich immer ein Auge auf meine Umgebung habe,  habe ich die Sprechstundenhilfe rechtzeitig wiedererkannt und bin grossräumig ausgewichen. Sie ist auf dem Kirchenvorplatz gestanden, hat sich mit einer Frau unterhalten und gottlob kein Auge für ihre Umgebung gehabt. Ich bin bis an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gegangen, habe meine Geschwindigkeit weiter gesteigert und so unser Dorf in Rekordzeit erreicht. Im Gasthof hat Ludwig sich bescheiden hinter mir gehalten und der Wirtin nur einsilbig geantwortet. Sie hat ihrer Verwunderung über unsere Ähnlichkeit lautstark Ausdruck gegeben, ich habe sie gebeten, nach Möglichkeit kein Aufhebens davon zu machen und ihr meine Pläne unterbreitet. Ludwig nimmt für ein Weile meinen Platz ein, hab ich gesagt, ich will für ihn gehalten werden, aus guten Gründen, die ich Ihnen bei Gelegenheit erläutern werde. Um die Täuschung möglichst vollständig zu machen, will ich ihm mein Zimmer abtreten und ihn an meiner Stelle mit den Schaustellern arbeiten lassen. Ich begnüge mich bis auf weiteres mit einer Dachkammer hier in Ihrem Gasthaus und mache mich so gut wie unsichtbar. Überdies würde ich mir gerne heute abend nochmals ihr Rad leihen. Die Wirtin war mit allem einverstanden und hat Blanka, die Küchenhilfe angewiesen, mir beim Umzug in eine der Dienstbotenkammern behilflich zu sein. Blanka, eine einfältige Person, hat mit halboffenem Mund auf Ludwig, und auf mich gestarrt, etwas Unverständliches gemurmelt und ist dann vor uns die Treppe hinaufgestiegen. Ludwig hat seine Augen auf Blankas stämmige Beine geheftet, was ich nicht ohne Besorgnis registriert habe. Ich habe die Tür zu meinem Zimmer aufgestossen, Ludwig den Vortritt gelassen, ihn auf den schönen Blick aus dem Fenster aufmerksam gemacht und meine Habseligkeiten eingesammelt. Von hier aus übersiehst du den ganzen Dorfplatz, hab ich gesagt, es ist, wie gesagt, das schönste Zimmer im Haus. Wird es dir nicht leid tun, wenn du mir dein Zimmer überlässt, hat Ludwig gefragt. Ich habe energisch verneint. Man soll dich für mich halten, hab ich gesagt, da muss alles stimmen. Dann habe ich meine Sachen an mich genommen und bin Blanka gefolgt. Die rechte Mädchenkammer ist noch frei, hat sie gesagt, weil ich ja bei meinen Eltern wohne, wird Ihnen das aber auf die Dauer nicht zu unbequem sein? Ich habe ihr bedeutet, dass sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen muss und meine Sachen in der tatsächlich engen und finsteren Mädchenkammer, die nicht viel mehr als ein Verschlag unter der Dachbodenschräge war, untergebracht. Dann habe ich nach Ludwig gesehen und ihn aufgefordert, ruhig einen Spaziergang durchs Dorf zu machen. Lass dich ruhig im Dorf sehen, hab ich gesagt und ihm befohlen, meinen wattierten auffällig roten Überrock anzuziehen. Jedermann soll dich für mich halten, das trägt zur Verwirrung bei, hab ich gesagt. Aber wenn mich jemand anspricht, was sage ich dann, hat Ludwig besorgt gefragt. Ich habe ihn diesbezüglich ganz leicht beruhigen können. Niemand wird dich ansprechen, hab ich gesagt, ich gelte als menschenscheu und wortkarg, man hält mich allgemein für einen Sonderling. Dann habe ich eine wichtige Besorgung vorgeschützt und Ludwig angewiesen, sich mit allfälligen Fragen an die Wirtin zu wenden. Sie hilft dir in allem weiter, hab ich gesagt und bis zum Abend bin ich ohnehin wieder zurück. Dann habe ich das Rad der Wirtin nochmals aus dem Schuppen geholt und die Strecke zum Sägewerk in Rekordzeit zurückgelegt. Ich habe den Zaun überklettert, ohne einen Gedanken an die Hunde zu verschwenden und bin durch ein offenstehendes Fenster ins Hausinnere gelangt. Mein erster Blick hat dem Papierkorb gegolten. Die zerknüllten Notenblätter waren zur Gänze vorhanden. Ich habe das Fenster sorgfältig geschlossen und die ausgefransten, fadenscheinigen Vorhänge so gut wie möglich vorgezogen, dann das Licht angedreht und eine eigens vorbereitete Mappe aus meiner Jackentasche gezogen. Die Mappe ist mir seinerzeit von unserem Auftraggeber ausgehändigt worden. Bewahren Sie hierin alle Kompositionen Ludwigs auf, hat er gesagt, achten Sie auf jede Note, die er zu Papier bringt, nichts darf verlorengehen. Ich habe die Mappe aufgeschlagen, das erste Notenblatt vom Boden aufgehoben, es glattgestrichen und in die Mappe gelegt. Susanna muss unverzüglich informiert werden, hab ich mir gedacht, während ich ein Blatt nach dem anderen glattgestrichen und in die Mappe gelegt habe, vielleicht ist damit mein Auftrag bereits so gut wie erledigt. Ich habe auf die aneinandergereihten Notenköpfe gestarrt und versucht, mir den Musikunterricht meiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen. Bald war der Papierkorb zur Gänze geleert, ich habe noch alle Schubladen und Ludwigs Kleiderschrank durchsucht, kein Blatt Papier darf mir entgehen, hab ich mir gedacht und mich erst zum Gehen gewandt, als ich sicher war, nichts übersehen zu haben. Ludwig hat schon ungeduldig auf meine Rückkehr gewartet, wieso kommst du so spät, hat er gefragt, wann beginnt die Vorstellung, ich möchte an meinem ersten Tag keinesfalls zu spät kommen. Niemand wird wissen, dass es dein erster Tag ist, hab ich gesagt, weil alle dich für mich halten werden, aber natürlich, pünktlich solltest du sein, darauf legt der Direktor allergrössten Wert. Wir haben unsere Kleider getauscht, Ludwig hat versucht, seine Haare wie ich zu frisieren, dann habe ich ihn aufgefordert, genau zuzuhören und ihm die wichtigsten Verhaltensmassregeln eingebläut. Vor allem den Mund halten, hab ich gesagt, ich gelte wie gesagt als wortkarg, bin aber anstellig und habe beim Direktor einen Stein im Brett. Mein einziger, richtiger Freund ist der Jongleur, an ihn kannst du dich halten. Geh allen ein wenig zur Hand, so wie ich es stets tue, dann wird niemand Verdacht schöpfen, hab ich gesagt. Ludwig hat aufmerksam zugehört, ich habe ihn alles wiederholen lassen, dann hat er sich auf den Weg gemacht. Ich bin mit gemischten Gefühlen im Wirtshaus zurückgeblieben. Als er spätabends wieder aufgetaucht ist, war er erschöpft, aber hochzufrieden. Alle haben mich für dich gehalten, hat er gesagt, es war ganz einfach. Wo warst du dann aber so lang, hab ich gefragt, du bist seit einer Stunde überfällig. Anfangs wollte Ludwig nicht mit der Sprache heraus, aber nach und nach hat sich doch herausgestellt, dass er nach der Vorstellung mit dem Jongleur und Samson in der Bahnhofswirtschaft getrunken hat. Damit sowas nicht mehr vorkommt, werde ich dich in Zukunft abholen, hab ich gesagt, ich werde nach der Vorstellung beim Lieferanteneingang des Hotels auf dich warten, es ist ganz ausgeschlossen, dass du dich jeden Abend in der Bahnhofswirtschaft betrinkst. Du brauchst einen klaren Kopf. Wofür, hat Ludwig gesagt, ich schreibe ja keine Lieder, einen klaren Kopf brauche ich nur, wenn ich Lieder schreiben will. Aber ich habe den Kopf geschüttelt. Geh auf dein Zimmer, hab ich gesagt, es ist schon spät und du muss morgen früh aufstehen, die Morgenarbeit darf keinesfalls versäumt werden, sonst bekommst du es mit dem Direktor zu tun. Ich habe Ludwig auf sein Zimmer begleitet, ihm eine gute Nacht gewünscht, seine Tür von aussen versperrt und den Schlüssel an mich genommen. Wieso tun Sie das, Herr Béla, hat mich die Wirtin gefragt, die unvermutet auf der Treppe erschienen ist, wenn er wirklich wegwill, springt er doch einfach aus dem Fenster. Ich habe der Wirtin nur ausweichend geantwortet, Müdigkeit vorgeschützt und mich in meine Mädchenkammer zurückgezogen. Am nächsten Morgen habe ich aus den Notenblättern ein handliches Paket geschnürt und es direkt an meinen Auftraggeber geschickt. In einem Begleitbrief habe ich meinem Auftraggeber die näheren Umstände, unter denen ich Ludwig gefunden habe, erläutert und meine eigenen Verdienste nicht unter den Scheffel gestellt. Er soll ruhig wissen, dass ich mein Bestes gebe, hab ich mir gedacht und nicht unerwähnt gelassen, dass ich bereits Ludwigs vollstes Vertrauen geniesse. Er befolgt alle meine Anweisungen, hab ich geschrieben, ich lasse ihn, um ihn bei Laune zu halten, an meiner Stelle bei den Schaustellern arbeiten, das klappt hervorragend und vertieft sein Vertrauen zu mir. Schon nach wenigen Tagen hat mich ein Antwortbrief Susannas erreicht und mir eine herbe Enttäuschung bereitet. Schön, dass du vorankommst, hat sie geschrieben, was die Notenblätter betrifft, lässt dir dein Auftraggeber mitteilen, dass nichts davon zu gebrauchen ist, das ist wertloses Zeug, es war schade um die Portokosten. Damit waren meine Hoffnungen, den Fall womöglich bereits gelöst zu haben, zunichte gemacht und ich habe mehrere Tage gebraucht, um mich von diesem Schlag zu erholen. Unvorsichtigerweise habe ich meine Enttäuschung auch Ludwig spüren lassen, habe ihm auf harmlose Fragen schroff geantwortet, ganz allgemein einen barschen Befehlston an den Tag gelegt und ihn mehrmals vor den Kopf gestossen. Erst als er sich nach einem Wortwechsel, den ich aus nichtigem Anlass vom Zaun gebrochen habe, in seinem Zimmer eingeschlossen hat, ist mir klargeworden, wie mimosenhaft empfindlich er eigentlich ist. Zur Essenszeit habe ich an seine Tür geklopft, aber er hat nicht aufgemacht, obwohl ich einen versöhnlichen Ton angeschlagen habe. Könnte nicht eines von den Küchenmädchen Ludwig das Essen hinaufbringen, hab ich die Wirtin gefragt und sie war, nachdem ich ihr einen grösseren Geldschein zugesteckt habe, einverstanden. Das hat sich in der Folge bitter gerächt, denn Ludwig hat an dieser Sonderbehandlung Gefallen gefunden und sich von da an geweigert, wie alle anderen in der Gaststube zu essen. Ich will alleine in meinem Zimmer essen, hat er gesagt, ich bin ans Alleinsein gewöhnt, ich war ja auch in meinem Häuschen monatelang gänzlich allein, wieso hast du mich überhaupt von dort weggeholt, hat er gefragt und mich mit vorwurfsvollen Blicken bedacht. Vielleicht gehe ich ja wieder dorthin zurück, hat er nach einer kurzen Pause gesagt, so schlecht wars dort gar nicht. Schlag dir das aus dem Kopf, hab ich gesagt, der Verwalter ist wütend auf dich, du bist weggerannt, er will mit dir nichts mehr zu tun haben, da bin ich ganz sicher. Glaub ich nicht, hat Ludwig gesagt und verstockt auf seine Schuhspitzen geschaut, er nimmt mich wieder in Gnaden auf, wenn ich ihn sehr darum bitte. Aber egal, hat er schliesslich gesagt und eine wegwerfende Handbewegung gemacht, in Zukunft will ich unbedingt auf meinem Zimmer essen und die Tabletts muss mir Blanka bringen, höchstens zum Frühstück komme ich noch in die Gaststube. Zwischen Ludwig und Blanka hat sich in der Folge ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, das ich mit zunehmender Sorge beobachtet habe. Er hat er sein Essen nur mehr aus ihrer Hand entgegennehmen wollen und als Blanka ihren freien Abend gehabt und die Aushilfe Ludwigs Tablett nach oben gebracht hat, hat er es unberührt wieder nach unten geschickt. Sie haben aber einen schwierigen Freund, hat die Wirtin zu mir gesagt, nicht, dass er der Blanka den Kopf verdreht, sowas kann ich hier im Wirtshaus nicht brauchen. Das Gehabe der Küchenhilfe hat auch tatsächlich Anlass zur Sorge gegeben, jedesmal, wenn sie von Ludwig zurückgekommen ist, hat sie einen verklärten Gesichtsausdruck zur Schau getragen und leise vor sich hin gesummt. Was summt sie da, hab ich die Wirtin gefragt, macht sie das öfters? Erst seit Sie uns Ihren Freund ins Haus gebracht haben, hat die Wirtin gesagt, und sie geht mir masslos auf die Nerven damit. Ich habe mir vorgenommen, Ludwig scharf zu beobachten, und tatsächlich hat sich Ludwig am nächsten Morgen beim Frühstück, das er im Gegensatz zum Abendessen ohne Sträuben im Gastzimmer einnimmt, den Hals verrenkt, um durch die halboffene Tür einen Blick auf die Küchenhilfe zu erhaschen. Er hat meinen misstrauischen Blick bemerkt, sich zu mir gebeugt und seine Stimme gesenkt. „Ruf sie.“ Ich habe, um Zeit zu gewinnen, nach der Kaffeekanne gegriffen und Ludwig nachgeschenkt. „Wozu?“ Aber er hat seinen verstockten Gesichtsausdruck aufgesetzt und die Achseln gezuckt. Ich war mit Ludwigs Launen mittlerweile gut genug vertraut, um zu wissen, dass Widerstand sinnlos war, habe aber trotzdem nochmals nachgefragt. „Was willst du denn von ihr?“ Ludwig hat mit dem Messer verschlungene Linien aufs Tischtuch gezeichnet und keine Antwort gegeben.  „Wieso soll ich sie rufen, na sag schon.“ Ludwig hat nach der Kaffeetasse gegriffen und sie in einem Zug leergetrunken, erst dann hat er sich zu einer Antwort bequemt. „Sie kennt die besten Lieder.“ Personen, die Ludwig eventuell inspirieren könnten, dürfen keinesfalls von ihm ferngehalten werden. Also habe ich mich vorgebeugt und meine Stimme gehoben. „Blanka, komm her.“ Blanka hat ihren Kopf in unsere Richtung gedreht und Ludwig einen raschen Blick zugeworfen. Sie hat ausgesehen, als könnte sie kein Wässerchen trüben, aber mich hat sie nicht täuschen können. Tatsächlich hat sie sich in weiterer Folge als berechnende Person erwiesen, die mit jemandem wie Ludwig natürlich leichtes Spiel gehabt hat. Sie hat ihre Kartoffel in Ruhe fertiggeschält, dann das Gemüsemesser beiseitegelegt und die Hände an der Schürze abgewischt. Dann ist sie langsam aufgestanden und nähergekommen, in der Küchentür aber wieder stehengeblieben.   „Ja, was ist?“ „Komm her.“ Sie hat sich zögernd genähert, dann die Arme gehoben und ihre strähnigen Haare geordnet. Ludwig hat vermieden, ihr direkt ins Gesicht zu sehen und ist unruhig auf seinem Platz hin und hergerutscht. Ich habe ihn in die Seite gestossen, aber er ist stumm geblieben, also habe ich ihn ein zweites Mal gestossen.  „Na sag schon, was willst du von ihr?“  Er hat sich geräuspert und ich habe ihn ein drittes Mal angestossen, weil ihm seine Stimme offenbar nicht gehorcht hat.  „Sie soll das Lied singen, das sie gestern abend gesungen hat.“ Ich habe die Küchenhilfe auffordernd angeschaut, aber sie ist reglos dagestanden, hat haarscharf an Ludwig vorbei aus dem Fenster geschaut und dann die Achseln gezuckt. „Ich weiss nicht welches.“ Ludwig hat eine ungeduldige Handbewegung gemacht. „Das von den Mädchen, die zum Brunnen gehen.“ Ach das, hat sie gesagt, sich mehrmals geräuspert und dann ein Lied gesungen, das ich noch nie gehört habe. Ludwig war ganz Ohr, hat mit dem Fuss den Takt geklopft, sich ein wenig geschaukelt und die Lippen bewegt. Seine Begeisterung ist echt gewesen und die Küchenhilfe hat sich geschmeichelt in den Hüften gewiegt, gleichzeitig aber einen besorgten Blick auf die Tür der Gaststube geworfen. Sie fürchtet Schwierigkeiten mit der Wirtin, hab ich mir gedacht. Tatsächlich führt die Wirtin ihre Mägde mit eiserner Hand, sobald ich ihnen den Rücken kehre, legen sie sich auf die faule Haut, hat sie schon mehrmals zu mir gesagt und nicht unrecht damit. Das Lied hat viele Strophen gehabt, als es zu Ende war, habe ich die Küchenhilfe aufgefordert, ihren Platz in der Küche wieder einzunehmen, aber sie hat aber den Kopf geschüttelt und Ludwig fragend angeschaut.      „Soll ichs nochmals singen?“ Ludwig hat genickt und keine Auge von Blanka gewandt. Als sich plötzlich die Tür geöffnet und die Wirtin in der Gaststube erschienen ist, hat Blanka augenblicklich zu singen aufgehört und sich auf ihren Platz verfügt. Aber natürlich hat sich die Wirtin nicht täuschen lassen, der Küchenhilfe  einen finsteren Blick zugeworfen und mir und Ludwig mit dem Finger gedroht. „Wer das Personal von der Arbeit abhält, kriegt es mit mir zu tun.“ In der Folge habe ich mich bemüht, die Wirtin bei Laune zu halten und es an Zuvorkommenheit und Freundlichkeit niemals fehlen lassen. Ludwig habe ich angewiesen, es mir gleichzutun. Sie kann es nicht leiden, wenn wir beim Frühstück trödeln, habe ich mehrmals zu ihm gesagt, sie braucht die Tische bereits am Vormittag für die Viehhändler und Bauarbeiter. Aber ich bin diesbezüglich auf taube Ohren gestossen. Ludwig hat sich jedesmal so hingesetzt, dass er die Küche im Blickfeld gehabt hat und sich den Hals ausgerenkt, um einen Blick auf Blanka zu erhaschen und sein Frühstück im Zeitlupentempo verzehrt. Alles in allem habe ich aber trotzdem das Gefühl gehabt, dass sich die Dinge aufs beste entwickeln und in diesem Sinn auch an Susanna geschrieben. Der Erfolg kann nicht mehr lang auf sich warten lassen, habe ich geschrieben, Ludwig vertritt mich schon eine ganze Weile bei den Schaustellern und vertraut mir mittlerweile vollkommen. Natürlich habe ich manches auch verschweigen müssen, zum Beispiel die Sache mit dem Notenheft. An der Sache mit dem Notenheft habe ich mir ganz alleine die Schuld geben müssen. Ludwig einfach mit einem leeren Notenheft zu konfrontieren, war gedankenlos und hätte alle meine Bemühungen um ein Haar zunichte gemacht. Inspirieren dich Blankas Lieder denn gar nicht, hab ich gefragt, wenn du einen Einfall hast und ein Lied schreiben möchtest, schreib es hier hinein, hab ich gesagt und ein leeres Notenheft aufgeschlagen vor ihn hingelegt. Ludwig hat mich einen Augenblick angestarrt, dann hat er das Heft vom Tisch gefegt, ist aufgesprungen, hinausgelaufen und hat sich den ganzen Nachmittag nicht mehr blicken lassen. Danach war das Verhältnis zwischen uns beiden eine ganze Weile aufs das empfindlichste gestört, Ludwig hat kaum das Nötigste mit mir geredet und unseren gemeinsamen Rückweg ins Dorf, nach der Abendvorstellung, haben wir oftmals zurückgelegt, ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Erst als er eines Nachts sein Schweigen gebrochen und sich bei mir über Blanka beklagt hat, habe ich wieder Hoffnung geschöpft. Sie will mir nichts mehr vorsingen, hat er gesagt, sprich du mit ihr, vielleicht hört sie auf dich. Ich habe seine Bitte als Indiz dafür genommen, dass er mir sein Vertrauen noch nicht gänzlich entzogen hat und Näheres über Blankas Weigerung wissen wollen, aber Ludwig hat bloss die Achseln gezuckt und von der venzianischen Nummer zu reden begonnen. Ludwig macht sich zum meinem Erstaunen ganz gut bei den Schaustellern, zum Beispiel haben er und die Dompteuse eine gemeinsame Nummer entwickelt, die beim Publikum hervorragend ankommt. Die Dompteuse und Ludwig tragen dabei ein reich verziertes Kostüm und halten sich Masken an langen Stäben vor die Gesichter, während die Pudel ihre Kunststücke zeigen. Ich habe die Dompteuse um eine von den Masken gebeten und sie hat es mir nicht abgeschlagen, hat Ludwig gesagt und als Blanka mir das nächste Mal vorgesungen hat, habe ich sie um einen kleinen Gefallen gebeten. Halt dir die Maske vor, damit ich dein Gesicht nicht sehen muss, während du singst, hab ich gesagt und sie damit tödlich beleidigt. Ich habe ein Lächeln unterdrücken müssen, denn Blanka ist in der Tat ein wenig erfreulicher Anblick, schon gar, wenn sie gefühlvolle Lieder singt, dann glitzern ihre Augen sentimental und kleine Speicheltröpfchen hängen in ihren Mundwinkeln. Ich sage dir, was du tun musst, hab ich zu Ludwig gesagt, du musst dich bei ihr entschuldigen und ihr ein kleines Geschenk machen. Aber Ludwig hat deprimiert den Kopf geschüttelt. Hab ich schon versucht, hat er gesagt, aber sie hat mir die kalte Schulter gezeigt. Ich habe ihm versprochen, mit Blanka zu reden. Sobald sich eine passende Gelegenheit bietet, hab ich gesagt.  Daraufhin hat sich Ludwigs finsteres Gesicht erstmals seit Wochen wieder ein wenig aufgehellt.

 

15
Sand

Wenn man ein vertrauliches Gespräch mit einem der Küchenmädchen führen möchte, muss man den richtigen Zeitpunkt abwarten, also bin ich tagelang um die Küche und um Blanka herumgestrichen, ohne dass sich Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen ergeben hätte. Hast du schon mit ihr gesprochen, hat Ludwig mich jeden Abend gefragt und seine Enttäuschung offen gezeigt, wenn ich verneint habe. Endlich, eines Morgens, habe ich Blanka dann allein vor einer grossen Schüssel Erbsen in der Küche sitzen sehen, die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihr gegenüber am Küchentisch Platz genommen. Sie war anfangs gar nicht sicher, wen von uns beiden, Ludwig oder mich, sie vor sich gehabt hat, erst als ich mich zu erkennen gegeben habe, hat sie mir ein freundliches Gesicht gezeigt und ist einer kleinen Unterhaltung durchaus nicht abgeneigt gewesen. Ich kriege immer die langweiligsten Arbeiten zugeteilt, hat sie gesagt, die Schüssel mit den Erbsen ein wenig zurückgeschoben und die Hände sinken lasse. Wenn man die kleinste Pause macht, wird man angeschrien und fauler Trampel geheissen, hat sie gesagt und mit dem Kopf auf die Tür zur Schankstube gewiesen, in der sie ganz richtig die Wirtin vermutet hat. Ich habe ihr ein anteilnehmendes Gesicht gezeigt und bin ohne weitere Umschweife zur Sache gekommen. Was ist los mit euch beiden, hab ich gefragt, mit Ludwig und dir, wieso willst du ihm nichts mehr vorsingen? Blanka hat die Achseln gezuckt, ihre Hand in die Schüssel getaucht und die Erbsen durch ihre Finger rieseln lassen. Sie hat mir gerade antworten wollen, als sich die Tür in die Schankstube geöffnet hat. Ah brauchst du schon beim Erbsenlesen Gesellschaft, hat die Wirtin gefragt und mir einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen. Sie halten mir die Blanka von der Arbeit ab, hat sie gesagt, das geht nicht. Blanka hat der Wirtin einen tückischen Blick zugeworfen, sich tief über ihre Erbsen gebeugt und mir bedeutet, dass sie um sechs Uhr Dienstschluss hat, warten Sie bei der Vorratskammer auf mich, hat sie mit durchdringender Stimme gesagt, dann können Sie mich nach Hause begleiten. Also habe ich pünktlich um sechs Uhr in der Nähe der Vorratskammer Posten bezogen. Ich habe eine ganze Weile auf Blanka warten müssen, sie ist eine halbe Stunde zu spät gekommen, die Wirtin hat mich nicht früher weggelassen, hat sie gesagt, nie kann man es ihr recht machen, ich habs satt bis obenhin. Mir  war viel daran gelegen, Blanka günstig zu stimmen, also habe ich ihr als erstes den Korb abgenommen, an dem sie schwer getragen hat. Der Korb war vollgefüllt mit Essensresten, wozu brauchst du das alles, hab ich gefragt, du kriegst dein Essen doch ohnehin im Wirtshaus, wieso nimmst du dir die Essensreste mit nach Hause? Weil ich mein eigenes Schwein füttere, hat sie gesagt, in zwei Wochen ist Schlachtfest, wollen Sie kommen? Aber gern, hab ich gesagt, das interessiert mich sogar sehr, ich war noch nie bei einem Schlachtfest. Blanka hat den Weg zum Dorfplatz eingeschlagen , aber ich habe sie am Arm genommen und in eine Seitengasse gelotst, denn ich lasse mich so wenig wie möglich sehen, seit Ludwig an meine Stelle getreten ist. Komm weg von da, hab ich gesagt und Blanka am Feuerwehrhaus vorbei zur Friedhofsmauer gezogen. Das ist aber ein Umweg, hat sie gesagt, aber ich habe auf ihre Einwände nicht weiter geachtet. Hör zu Blanka, hab ich gesagt, nachdem das Dorf hinter uns gelegen ist und wir auf einem Feldweg gut vorangekommen sind, ich hätte gern, dass du Ludwig wieder vorsingst, er kränkt sich über deine Weigerung und muss, aus verschiedenen Gründen, unbedingt bei Laune gehalten werden. Wieso muss er bei Laune gehalten werden, hat Blanka gesagt, mir doch egal, ob der bei Laune ist oder nicht. Der renitente Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören und ich habe beschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.    „Was war los? Mir kannst dus sagen, von mir erfährt keiner was, das weisst du“ Sie hat an den Nägeln gekaut und haarscharf an mir vorbeigeschaut. „Heraus mit der Sprache.“ „Er hat mich beleidigt. “ Mehr hat sie nicht sagen wollen, erst als ich sie meine wohlgefüllte Geldtasche habe sehen lassen, ist sie mit der Sprache herausgerückt. „Das mit der Maske will ich nicht.“ Ich bin stehengeblieben, habe sie angeschaut und Unverständnis vorgetäuscht. „Was für eine Maske, Blanka?“  Blanka hat eine ungeduldige Handbewegung gemacht. „Sie wissen schon, es gibt Clownmasken, Draculamasken, Schweinchenmasken, sowas.“  „Ja und?“ Blanka hat mich ratlos angeschaut, sie ist nicht allzu schnell von Begriff, aber ich habe meine Ungeduld geschickt verborgen. Schliesslich hat sie den Kopf geschüttelt und ihre blassblauen, etwas eng beieinander stehenden Augen auf mich gerichtet. „Er will, dass ich mir eine Maske vors Gesicht halte, wenn ich singe. Mein Gesicht gefällt ihm nicht, sagt er.“  Ludwig findet oft nicht die richtigen Worte, hab ich gesagt, er ist ein wenig eigenwillig, aber das muss man ihm nachsehen, schliesslich hört er absolut. Und den Gefallen kannst du ihm ja wohl tun, hab ich gesagt, wenn es weiter nichts ist. Aber Blanka hat nicht mit sich reden lassen, da kann er sich eine andere Blöde suchen, hat sie gesagt und ein flottes Tempo vorgelegt. Ich habe Mühe gehabt, mit ihr Schritt zu halten, meine Verärgerung über ihre Starrköpfigkeit geschickt verborgen, das Thema gewechselt  und aus dem Stegreif eine launige Geschichte über Faschingsmasken und Verkleidungen zu erzählen gewusst. Nach einer scharfen Wegbiegung hat Blanka auf ein kleines hölzernes Häuschen, ganz oben am gegenüberliegenden Hang gewiesen.   „Gleich sind wir da, sehen Sie, dort vorne wohne ich.“ Vor der Hütte hat sie mir den Korb abgenommen und mich aufgefordert, einzutreten. Wir bekommen nämlich kaum Besuche, hat sie gesagt, ich bringe sie zuerst zu meinen Eltern, damit Sie ihnen guten Tag sagen können und dann zeige ich Ihnen mein Schwein.“  Bringst du uns den Verrückten schon wieder ins Haus, hat Blankas Vater aber gesagt, kaum, dass er mich zu Gesicht bekommen hat und Blanka hat sich beeilen müssen, alles aufzuklären. Das ist nicht Ludwig, hat sie gesagt, da ist Herr Béla, sie sehen sich bloss ähnlich, könnten aber verschiedener gar nicht sein. Herr Béla wohnt schon eine ganze Weile bei uns im Gasthof. Die Wirtin hält grosse Stücke auf ihn. Ach, na dann, hat Blankas Vater gesagt, Sie können einem aber leid tun, das muss ein Problem sein, wenn man einem Halbverrückten ähnlich sieht. Ich habe den Kopf geschüttelt und  mich für Ludwig in die Bresche geworfen. Er ist nicht verrückt, hab ich gesagt, er hört bloss absolut, das  macht den Umgang mit ihm ein klein wenig schwierig. Blankas Eltern waren, nachdem sich das Missverständnis aufgeklärt hat, die Freundlichkeit selbst und haben mich eingeladen, mit ihnen zu essen. Ich habe abgelehnt und Blanka zugesehen, die ihren Korb leergeräumt hat, die Essensreste, Äpfel und angefaulte Salatköpfe in einen grünen Eimer geleert und Suppe darübergegossen hat. Ihr Vater hat mir abscheulich schmeckendes, selbstgebrautes Bier vorgesetzt, ich habe das Glas geleert und mich lobend geäussert. Natürlich war der Alte aufs Äusserste geschmeichelt, hat mir nochmals nachgeschenkt und mich dann aufgefordert, ihm in den Schweinestall zu folgen.  „Ich selber werde Ihnen Blankas Schwein zeigen. Das ist ein Prachtexemplar, Sie werden sehen.“ Er hat mich über den Hof zu einer soliden Hütte geführt, die Tür aufgestossen und mir den Vortritt gelassen. Ich habe anfangs im Halbdunkel so gut wie gar nichts erkennen können und ganz flach geatmet. Wenn man flach atmet, ist auch der durchdringendste Gestank kein grosses Problem. Blankas Vater hat mich vorwärtsgeschoben und die Hand ausgestreckt. „Sehen Sie dort.“ Tatsächlich habe ich im Dämmerlicht ein wahrhaft riesiges Schwein ausmachen können. Es hat sich mühsam aufgerappelt, denn die dünnen Beinchen haben den voluminösen Körper kaum tragen können, ist zu uns gekommen und  hat versucht, seinen Rüssel durch die Planken zu stecken. Mir ist ein Gespräch über dressierte Schweine eingefallen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit mit dem Direktor der Schaustellertruppe geführt habe. Erst die Stimme Blankas hat mich aus meinen Gedanken gerissen. „Na was sagen Sie dazu?“ Ich habe mich umgewandt, und sie in der geöffneten Stalltür stehen sehen. An dem grünen Plastikeimer in ihrer linken Hand hat sie schwer zu tragen gehabt, aber ich habe diesmal es für richtig gehalten, ihr den Eimer nicht abzunehmen. Sie soll ruhig ihre Arbeit tun, hab ich mir gedacht, städtische Höflichkeiten verwirren sie nur. Ihr Vater hat mich ein wenig beiseitegezogen, während Blanka den Inhalt des Eimers in den Schweinetrog geleert hat. In kürzester Zeit war der Trog leergefressen und das Schwein hat wieder seinen Rüssel durch die Planken gesteckt. Es ist wohl immer noch hungrig, hab ich gesagt, aber Blanka hat den Kopf geschüttelt und sich zur Tür gewandt. Einmal muss es genug sein, hat sie gesagt, so ein Schwein frisst, wenn man es lässt, Tag und Nacht ununterbrochen. Wir sind eine Weile vor dem Schweinestall stehengeblieben und haben in die untergehende Sonne geschaut. Dann hat mir der Alte ein weiteres Bier in Aussicht gestellt. Kommen Sie nochmals ins Haus, hat er gesagt, und trinken Sie noch eins. Aber ich habe abgelehnt und die Abendvorstellung als Ausrede genommen. Aber da geht doch jetzt ohnehin Ludwig hin, hat die Küchenhilfe gesagt, da haben Sie ja ohnehin frei. Ich habe den Kopf geschüttelt und Blanka die Sachlage auseinandergesetzt. So einfach ist das nicht, hab ich gesagt, ich muss zur rechten Zeit am Lieferanteneingang sein, Ludwig ist daran gewöhnt, dass ich ihn abhole und nach Hause begleite. Wenn ich nicht pünktlich zur Stelle bin, geht er unweigerlich mit den anderen in die Bahnhofswirtschaft und betrinkt sich. Und ich halte gar nichts davon, wenn Ludwig sich ständig betrinkt, für die Truppe gilt strengstes Alkoholverbot, hab ich zum Alten erklärend gesagt und er hat verständig genickt. Ich habe diesbezüglich schlimme Sachen gehört, hat er gesagt, in einem Dorf wie dem unseren macht eben alles die Runde. Für Ludwig fühle ich mich verantwortlich, hab ich gesagt, was die anderen Truppenmitglieder tun, ist ihre Sache, darum kümmere ich mich nicht so sehr. Ich habe es für richtig gehalten, Ludwigs Namen nochmals ins Spiel zu bringen, um die Dinge ein wenig voranzutreiben, aber Blankas Vater hat eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Der hat unserer Blanka Angst gemacht, hat er gesagt, wenn er nochmals um sie herumstreicht, lasse ich ihn meine Schrotflinte sehen. Ludwig darf man nicht mit normalen Massstäben messen, hab ich gesagt, Ludwig ist primär daran interessiert, dass Blanka ihm vorsingt, das missversteht man leicht. Blanka ist in den besten Händen bei ihm, er ist die Harmlosigkeit selber, aber er hört, wie gesagt, absolut. Der Alte hat die Achseln gezuckt und sich desinteressiert abgewandt.     „Ach was, hört absolut. Davon verstehen wir hier im Dorf nichts. Verrückt ist er, das ist alles. Die Blanka hat uns  alles erzählt. Sie ist ein gutes Mädchen, das keine Geheimnisse vor seinen Eltern hat. An einem Abend will er ewig ein und dasselbe Lied hören, und dann am nächsten Abend ein anderes, immer und immer wieder, das macht doch keinem Spass. Und dann noch das mit der Maske, unsere Blanka ist doch ein ansehnliches Mädchen.“ Ganz gewiss ist sie das, hab ich gesagt, mich in der Folge von Blanka und ihren Eltern verabschiedet und versprochen, bald wiederzukommen. Falls ich kurzfristig eine Zuflucht brauche, hab ich gesagt, könnte ich doch sicher bei Ihnen unterkommen? Aber ja, hat Blankas Vater gesagt, im Schuppen ist reichlich Platz, zur Not können Sie sogar Ihren verrückten Doppelgänger mitbringen. Die drei sind vor der Hütte stehengeblieben und haben mir nachgeschaut, während ich den Hügel hinuntergegangen bin. Ich habe mich beeilt, ins Dorf zurückzukommen und habe mich im Näherkommen über den belebten Kirchenvorplatz gewundert. Dann ist mir eingefallen, dass der Viehmarkt an jedem ersten Mittwoch im Monat abgehalten wird. An diesen Tagen ist der Gasthof der meistbesuchte Ort, also habe ich versucht, mein Zimmer über den Hofeingang zu erreichen, denn wenn Viehmarkt ist, meide ich normalerweise die Gaststube. Aber der Wirtin entgeht nichts, ah, da sind Sie ja, Herr Béla, hat sie gerufen, helfen Sie mir doch mit dem Fass. In der Gaststube ist jeder einzelne Platz besetzt gewesen, und die, die keinen Platz gefunden haben, sind zwischen den Tischen, an der Wand und sogar in der Küche gestanden. Ich habe die Wirtsstube nur zögernd betreten so helfen Sie mir doch, Herr Béla, hat die Wirtin gesagt und mich angewiesen, das Bierfass anzuheben, das muss hier hinein. Dann hat sie die Männer am Stammtisch aufgefordert, mir Platz zu machen. Für Hausgäste muss immer ein Platz frei sein, hat sie gesagt und einen der Viehhändler aufgefordert, ein wenig beiseite zu rücken. Aber ich habe ihr bedeutet, dass ich ohnehin in Eile bin. Ich muss nach Ludwig sehen, hab ich gesagt, die Gaststube eilends verlassen und die Blicke der Einheimischen im Rücken gespürt. Ludwig hält sich tagsüber die meiste Zeit in seinem Zimmer auf, obwohl ich ihn immer wieder auffordere, sich draussen sehen zu lassen. Aber er verlässt sein Zimmer so wenig wie möglich und nimmt die abendlichen Vorstellungen als Ausrede. Ich muss mich ausruhen, sagt er, die Vorstellungen sind über die Massen anstrengend, das solltest du eigentlich wissen. Schon vor einiger Zeit habe ich ihm vorgeschlagen, die Sache mit den Schaustellern zu überdenken. Wenn es dir keinen Spass macht, lassen wirs einfach, hab ich gesagt. Aber davon hat Ludwig auch nichts hören wollen. Auf gar keinen Fall, hat er gesagt, wo könnte man sonst solche Musik hören, der Trommler ist ein Meister seines Fachs und wenn der Geselle des Spassmachers die Triangel schlägt, wird es immer ganz still im Publikum, ist dir das etwa gar nicht aufgefallen? Nein, habe ich wahrheitsgemäss antworten müssen, das ist mir in der Tat noch gar nicht aufgefallen. In der Folge haben wir eine Übereinkunft getroffen, die für uns beide ganz akzeptabel ist. Wir halten es jetzt so, dass Ludwig zu den meisten Vorstellungen geht, wenn er absolut keine Lust hat, springe ich ein. Dass ich Ludwig nach der Vorstellung vor dem Lieferanteneingang erwarte, hat sich ebenfalls bewährt. Diesmal hat mich Ludwig mit vorwurfsvoller Miene empfangen. Wo warst du denn so lang, hat er gefragt, hast du mit Blanka geredet? Ich habe ihm in aller Kürze von meinem Besuch bei Blanka und ihren Eltern erzählt, später erzähle ich dir mehr, hab ich gesagt und ihn aufgefordert, sich zu beeilen. Sonst kommst du zu spät zur Abendvorstellung, hab ich gesagt, und du weisst doch, der Direktor kann Unpünktlichkeit nicht leiden. Aber Ludwig hat bloss die Achseln gezuckt. Er ist jetzt nicht mehr so streng wie anfangs, hat er gesagt, alle kommen zu spät, versäumen die Morgenarbeit und sogar abends, bei den Vorstellungen, muss manchmal die eine oder andere Nummer ausfallen. Wir haben nur mehr wenige Zuschauer, hat er gesagt und sich nur zögernd auf den Weg gemacht. Wir treffen uns wie immer beim Lieferanteneingang, hab ich ihm nachgerufen, wenn man dich auffordert, mit in die Bahnhofswirtschaft zu kommen, lehnst du ab. Die Abendstunden habe ich dazu benutzt, meinen wöchentlichen Bericht an Susanna zu schreiben und mich dann zeitgerecht auf den Weg gemacht, um Ludwig abzuholen. Wir treffen uns immer beim Lieferanteneingang, und obwohl ich vor der Zeit da war, habe ich Ludwig bereits auf der Türschwelle sitzend vorgefunden. Ich habe ihn gefragt, wie die Vorstellung abgelaufen ist und Ludwig hat anklagend seine rechte Hand vorgewiesen. Die Dompteuse hat mich geschlagen, hat er gesagt und mir die roten Striemen auf seinem Handrücken gezeigt. Die Dompteuse schlägt keinen so ohne weiteres, hab ich gesagt, du musst ihren Unwillen erregt haben, hast du irgendwas falsch gemacht? Ludwig hat die Achseln gezuckt und nicht mit der Sprache herausrücken wollen. Du hast dich ihren Anweisungen widersetzt, hab ich versuchsweise gesagt, wer sich den Anweisungen der Dompteuse widersetzt, wird geschlagen, das ist ganz klar. Aber Ludwig hat nichts weiter darüber sagen wollen und weil am nächsten Morgen die rote Spur auf seinem Handrücken immer noch sichtbar gewesen ist, hat er sich geweigert, zur Morgenarbeit zu gehen. Auch die Abendvorstellung habe ich übernehmen müssen und bin auf die abweisendsten Mienen und verächtliche Blicke gestossen. Und dann, ausgerechnet während der venezianischen Nummer, hat mir die Dompteuse einen Hieb mit der Peitsche versetzt. Ich habe ihn gleichmütig hingenommen, mich aber sofort nach der Vorstellung auf den Heimweg gemacht und Ludwig zur Rede gestellt. Du hast die Truppe ernsthaft gegen uns aufgebracht, hab ich gesagt, ich habe es heute ausbaden müssen, was war los? Gar nichts, hat Ludwig gesagt und mir sein verstocktestes Gesicht gezeigt, aber ich habe nicht lockergelassen und ihm nach und nach die Ereignisse vom Vorabend entlockt. Ich bin mit der Seiltänzerin in Streit geraten, hat Ludwig gesagt, aber sie war ganz alleine schuld. Sie hat mich festgehalten, hat die Hand ausgestreckt, meinen obersten Jackenknopf zwischen zwei Finger genommen und mich zu sich gezogen. Ich habe sie gebeten, mich loszulassen, aber sie hat ihre Arme um meinen Hals geschlungen. Sowas kann ich nicht leiden, hat Ludwig gesagt, ich habe sie weggestossen, sie ist zu Boden gefallen und hat sich den Knöchel verstaucht. Die Seiltanznummer fällt jetzt für eine Weile aus, hat er gesagt, und das ist fatal, weil auch Samsons Entfesselungsnummer, die Jongleurnummer und das Schlagerpotpourri schon seit einer Weile ausfallen. Der bunte Abend ist jedesmal zu Ende ist, kaum das er begonnen hat. Das ist mir auch schon aufgefallen, hab ich gesagt, aber ich habe es darauf zurückgeführt, dass kaum Publikum da war. Publikum ist schon eine ganze Weile keines mehr da, hat Ludwig gesagt, wir spielen grösstenteils vor leeren Stühlen. Erst habe ich Ludwig wegen des Missgeschicks mit der Seiltänzerin schelten wollen, mich dann aber eines Besseren besonnen und das Gespräch lieber auf Blanka gelenkt. Dann bin ich auf mein Zimmer gegangen und habe die Fibel für den Privatdetektiv zu Rate gezogen. Ich habe die entsprechenden Stellen nachgelesen und in der Folge einen Brief an Susanna geschrieben. Ohne Geld trete ich hier auf der Stelle, habe ich geschrieben, mit einer entsprechenden Summe liesse sich unter Umständen alles beschleunigen, schicke mir also unverzüglich eine grössere Summe. Monatelang hier in dieser rückständigen Gegend auszuharren, ist kein Vergnügen, habe ich geschrieben, ich würde meine Zelte gerne so bald wie möglich abbrechen und erwarte, dass mich die Detektei in meinen Bemühungen, die Sache mit Ludwig möglichst bald zu einem Ende zu bringen, tatkräftig unterstützt. Ein klares Wort wird von Susanna immer verstanden, ich habe mich, was das betrifft, nie beklagen können, auch diesmal hat sie mir unverzüglich eine grössere Summe anweisen lassen. Sobald das Geld in meinen Händen war, habe ich mich Blankas Mithilfe versichert, habe mich ihr eines Morgens, als sie ihren Dienst antreten wollte, in den Weg gestellt und sie aufgefordert, mit mir in den Schuppen zu kommen. Sonst sieht uns die Wirtin, hab ich gesagt, und du bekommst wieder Schwierigkeiten. Das hat ihr eingeleuchtet und sie ist mir widerspruchslos gefolgt. Hör zu, hab ich gesagt, reden wir Klartext, ich geb dir Geld, wenn du alles tust, was Ludwig möchte. Sie hat, wie erwartet, den Kopf geschüttelt und entrüstet abgewehrt. Ich bin ein anständiges Mädchen, hat sie gesagt und brauche Ihr Geld nicht, ich verdiene mein eigenes Geld. Dann schau dir das an, hab ich gesagt und das Bündel Geldscheine aus meiner Hosentasche gezogen. Ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert, und ab diesem Zeitpunkt hat es nicht die geringsten Schwierigkeiten mit ihr gegeben. Du kommst am besten gleich mit, hab ich gesagt, und gibst Ludwig die Hand, damit er weiss, dass du ihm nicht länger böse bist. Wir haben Ludwig in der Schankstube aufgestöbert, er hat erwartungsvoll den Kopf gehoben und  zaghaft gelächelt. Blanka will dir was vorsingen, hab ich gesagt, und sie hält sich dabei gern die Maske vors Gesicht, stimmts, Blanka? Ludwig hat die Maske eilends aus seinem Zimmer geholt, Blanka hat nicht die geringsten Einwände gemacht, sich in Positur gestellt, ihr Gesicht hinter der Maske verborgen und dann mit lauter, greller und vor Gefühl zittriger Stimme ein vielstrophiges Volkslied gesungen. Ludwig hat sich im Takt der Musik gewiegt, bravo gerufen und begeistert in die Hände geklatscht, bravo, noch eins. Aber die anderen Gäste haben protestiert, einer hat sogar das Radio ein  wenig lauter gedreht. Kommt weg von da, hab ich gesagt, ihr geht am besten in Ludwigs Zimmer, da seid ihr gänzlich ungestört. Die beiden sind mir gefolgt, ich habe sie die Treppe hinaufbegleitet und die Zimmertür sorgsam hinter ihnen geschlossen. Im Stiegenhaus bin ich auf die Wirtin gestossen, die einen Brief Susannas in der Hand gehabt hat. Post für Sie, hat sie gesagt, mir den Brief entgegengestreckt und mich mit bösen Blicken bedacht. Ich habe den Brief ungeöffnet in meine Jackentasche geschoben und der Wirtin auseinandergesetzt, dass es aus verschiedenen Gründen notwendig ist, Blanka viel Zeit mit Ludwig verbringen zu lassen. Weil die Miene der Wirtin unverändert düster geblieben ist, habe ich ihr Geld angeboten. Nehmen Sie das, hab ich gesagt und ihr mehrere grosse Scheine zustecken wollen, wenn Sie sich ein neuen Küchenmädchen suchen, erwachsen Ihnen sicher Unkosten. Zu meinem Erstaunen hat die Wirtin das Geld abgelehnt, ich brauche es nicht, hat sie gesagt, aber ich erhöhe ab nächsten Monat euren Zimmerpreis, wenn ihr weiterhin hier wohnen wollt, müsst ihr um einiges mehr bezahlen. Kein Problem, Frau Wirtin, hab ich gesagt, vielleicht ist meine Mission nächstes Monat ohnehin schon beendet, dann fallen wir Ihnen nicht länger zur Last, Ludwig und ich. Die Wirtin hat auf die einmonatige Kündigungsfrist hingewiesen, wird die nicht eingehalten, berechne ich den erhöhten Preis für ein weiteres Monat, hat sie gesagt, am besten, Sie kündigen mir gleich. Das kann ich noch nicht, Frau Wirtin, hab ich gesagt, wieso fallen Sie mir ausgerechnet in dieser heiklen Phase in den Rücken, wir sind doch bis jetzt ganz gut miteinander ausgekommen, was ist los? Aber sie hat bloss die Achseln gezuckt und sich zum Gehen gewandt. Ich habe mich die Treppe hinaufgeschlichen, mein Ohr an Ludwigs Zimmertür gelegt und Blanka lauthals singen hören. Dann habe ich mich in mein Zimmer zurückgezogen und in der Fibel für den Privatdetektiv geschmökert. Als es an der Zeit war, mich auf den Weg ins Hotel zu machen, habe ich mich aus dem Fenster gebeugt und einen unbekannten Mann im Hof stehen sehen. Ich war mir sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben. Ich habe mich hinter dem Vorhang verborgen gehalten und ihn eine Weile beobachtet. Er hat interessierte Blicke hinauf zu Ludwigs Fenster geworfen, das hat mir zu denken gegeben. Ich habe auf meine Uhr gesehen, festgestellt, dass ich mich beeilen muss, mich beim Hinausgehen an Susannas Brief  erinnert und ihn ungeöffnet in meine Jackentasche gesteckt. Ich werde ihn irgendwann während der Vorstellung lesen, hab ich mir gedacht, bin einen Moment vor Ludwigs Tür stehengeblieben, habe mein Ohr an die Tür gelegt und Blanka ein langsames Lied singen hören. Ich bin mit der Entwicklung der Dinge durchaus zufrieden gewesen, habe den Weg ins Sporthotel im Laufschritt zurückgelegt, bin aber trotzdem zu spät gekommen. Weil das strenge Reglement des Direktors aber schon seit einer Weile einer gewissen Nachlässigkeit Platz gemacht hat, bin ich ohne Rüge davongekommen. Während der Vorstellung war ich geistesabwesend und nicht recht bei der Sache und habe mir, speziell bei der Jongleurnummer, ein paar böse Schnitzer geleistet. Nach der Vorstellung hat uns der Direktor in den Pausenraum befohlen und an unseren Teamgeist appelliert. Ich vermisse den Elan und den Enthusiasmus der Anfangszeit, hat er gesagt und unser mangelndes Engagement beklagt. Unsere bunten Abende dauern kaum noch eine halbe Stunde, damit lockt man keinen Hund hinter dem Ofen hervor, hat er gesagt, das können wir uns nur in einer abgelegenen Gegend wie dieser leisten, aber was wird im Frühjahr werden, wenn wir unser Wanderleben wieder aufnehmen müssen, womit bespielen wir die Mehrzwecksäle? Niemals werden wir sie mit unseren derzeitigen Programm füllen können, das ist euch hoffentlich klar, hat der Direktor gesagt. Abgesehen davon ist man auch hier im Hotel nicht zufrieden mit unseren Darbietungen, der Hoteldirektion liegen bereits zahlreiche Klagen vor. Da wir aber  bis zum Ende der Saison fix engagiert sind, kann man uns nicht allzu viel anhaben, hat die Dompteuse gesagt, fürs erste haben wir nichts zu befürchten. Ich habe mich, während der Direktor gesprochen hat, hinter Samson versteckt und Susannas Brief gelesen. Die Hiobsbotschaft ist mir sofort ins Auge gesprungen. Unser Auftraggeber hat sich deine aktuelle Adresse geben lassen, hat Susanna geschrieben, es könnte sein, dass er plötzlich bei dir auftaucht und sich über deine Arbeitsweise selber ein Bild machen will. Er beklagt sich darüber, dass in deinen wöchentlichen Berichten nur nichtssagende Floskeln stehen, und dass du nicht richtig vorankommst und er fürchtet, dass seine Konkurrenten bereits Ludwigs Spur aufgenommen haben. Ich habe mich an den fremden Herrn im Wirtshaushof erinnert und beschlossen, mich der Dompteuse anzuvertrauen. Auf die Wirtin darf ich nicht mehr zählen, hab ich mir gedacht, ich muss mich anderweitig nach Hilfe umsehen. Also habe ich, nachdem uns der Direktor entlassen hat, die Dompteuse und die Seiltänzerin um eine Unterredung gebeten. Es tut mir ganz besonders leid, dass die Seiltanznummer jetzt für eine Weile ausfallen muss, hab ich gesagt, ich entschuldige mich in aller Form für Ludwigs Entgleisung, dergleichen wird nicht mehr vorkommen. Die beiden haben meine Entschuldigung akzeptiert und mir ermutigend auf die Schulter geklopft. Ist schon in Ordnung, haben sie gesagt, eine einmalige Entgleisung kann jedem passieren, wir sind nicht nachtragend. Wo ist denn dein Doppelgänger, hat mich die Seiltänzerin gefragt, hältst du ihn jetzt unter Verschluss, damit er nicht noch mehr Unheil anrichten kann? Er ist zu Hause und lässt sich vorsingen, hab ich gesagt, das Küchenmädchen inspiriert ihn. Dann habe ich die beiden in kurzen Zügen über meine Mission informiert und sie gebeten, mir ein wenig unter die Arme zu greifen. Komm mit uns in die Bahnhofswirtschaft und trink ein Gläschen, hat die Dompteuse gesagt, zum Beweis, dass alle Missverständnisse zwischen uns ausgeräumt sind. Um die beiden nicht erneut zu brüskieren, habe ich eingewilligt, bin aber die ganze Zeit wie auf Nadeln gesessen und nach ein paar Gläsern eilends nach Hause gegangen. Ich habe mein Ohr an Ludwigs Zimmertür gelegt, lange gelauscht und dann mein Zimmer aufgesucht. Ich habe Susannas Brief nochmals durchgelesen und unverzüglich einen Antwortbrief verfasst. Die Phase, in der ich mich im Augenblick befinde, ist die sensibelste, hab ich geschrieben, ein Konkurrent hat sich bereits auf Ludwig Spur gesetzt, sieh zu, dass ich nicht gestört werde, wenn unser Auftraggeber hier auftaucht und Ludwig erkennen muss, dass ich ihn getäuscht habe, sind alle meine Bemühungen mit einem Schlag zunichte gemacht.    

 

 

16
Weissblau

 

 

In der Folge habe ich versucht, die Dinge mit gebotener Schnelligkeit voranzutreiben, habe zugesehen, dass es Ludwig an nichts fehlt und Blanka angewiesen, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Dabei hat sich Blankas fragwürdiger Charakter allerdings sehr bald deutlich gezeigt. Sie hat begonnen, Ludwig auf dem Kopf herumzutanzen, hat ihn zum Besten gehalten, sich lauthals über ihn lustig gemacht und meine Bestrebungen, für Harmonie zu sorgen, unentwegt sabotiert. Sie hat sich ständig an meine Fersen geheftet, mir die peinlichsten Avancen gemacht und mich eines Abends unbedingt zur Vorstellung begleiten wollen. Ich möchte auch zu den Schaustellern gehören, hat sie gesagt, legen Sie doch ein gutes Wort für mich ein, vielleicht lassen sie mich mitmachen. Das schlägst du dir am besten gleich aus dem Kopf, hab ich gesagt, oder kannst du etwa ein Kunststück? Soweit ich weiss, nein. Aber Blanka hat nicht lockergelassen. Ich könnte was singen, hat sie gesagt, wenn es Ludwig so gefällt, gefällt es vielleicht auch anderen. Gottlob hat in diesem Augenblick die Wirtin nach ihr gerufen, ich habe gewartet, bis sich die Tür zum Schankraum hinter ihr geschlossen hat und dann Ludwig in seinem Zimmer aufgesucht. Ich habe ihm von meinem Gespräch mit Blanka erzählt, sie möchte für ihr Leben gerne bei den Schaustellern mitmachen, hab ich gesagt, man muss ihr das ausreden, sie kann ja kein Kunststück. Wir können auch keines, hat Ludwig gesagt, und machen trotzdem überall mit. Sie könnte was singen, hat er nach einer Weile gesagt, sie kennt eine Menge Volkslieder und das Schlagerpotpourri fällt ohnehin schon seit einer Weile aus, ich bin sicher, das kommt an, wenn Blanka singt. Aber ich habe den Kopf geschüttelt. Das Publikum im Sporthotel will keine Volkslieder hören, hab ich gesagt, das will die Schlager der Saison hören oder noch besser, die Schlager der nächsten Saison. Während ich das gesagt habe, habe ich Ludwig aus den Augenwinkeln beobachtet. Er hat eine Weile geschwiegen, aus dem Fenster geschaut und sich dann einen Ruck gegeben. Auch das ist kein Problem, hat er gesagt, bring mir ein Notenheft und spitze Bleistifte, ich werde ein paar Lieder für Blanka schreiben. Es versteht sich, dass ich auf dem Absatz kehrtgemacht habe, in den Gemischtwarenladen geeeilt bin und ein Notenheft verlangt habe. Aber die Kaufmannsfrau hat bloss den Kopf geschüttelt und mir bedeutet, dass ein Notenheft noch nie verlangt worden ist. Sowas führe ich nicht, hat sie gesagt, da müssen Sie schon in die Bezirksstadt fahren. Noch am selben Tag bin ich mit dem Rad der Wirtin in die Bezirksstadt gefahren und habe im einzigen Papierwarengeschäft des Ortes zwischen zwei Notenheftsorten wählen können. Ich habe von jeder Sorte eines genommen, habe die Hefte Ludwig stolz präsentiert, aber er hat die Nase gerümpft. Schlechtes Papier, hat er gesagt und das Heft mit der grüne Geige auf dem Vorsatzblatt nur zögernd aufgeschlagen. Er hat probeweise ein paar Noten hineingeschrieben und dabei ein wenig gesummt. Wird schon gehen, hat er gesagt, aber ich brauche auch ein Musikinstrument. Etwa gar ein Klavier, hab ich gefragt, das einzige Klavier weit und breit steht im Sporthotel, wie stellst du dir das vor? Ludwig hat den Kopf geschüttelt, das Klavier im Hotel ist grässlich verstimmt, hat er gesagt, es ist gänzlich unbrauchbar, nein, irgendwas Kleineres, eine Violine oder eine Flöte. Also bin ich nach unten gegangen und habe die Wirtin gefragt, ob eine Violine oder Flöte im Haus ist, aber sie hat den Kopf geschüttelt. Nichts dergleichen, hat sie gesagt, aber eine Gitarre und ein Akkordeon, im übrigen gibt es schlechte Neuigkeiten, Herr Béla, setzen Sie sich. Ich habe ihr bedeutet, dass ich in Eile bin, ich komme später zu Ihnen, hab ich gesagt, geben Sie mir vorderhand beides, die Gitarre und das Akkordeon. Ich habe Ludwig die beiden Instrumente präsentiert, er hat das Akkordeon weit von sich gewiesen, ist aber mit der Gitarre ganz zufrieden gewesen. Das wird gehen, hat er gesagt und ein paar Töne angeschlagen. Ich habe die Tür leise hinter mir ins Schloss gezogen und bin zur Wirtin in die Gaststube gegangen. Schlechte Neuigkeiten also, Frau Wirtin, hab ich gesagt und mich an meine Fenstertisch gesetzt, ich bin gespannt, lassen Sie hören. Zwei, hat sie gesagt und die Arme in die Hüften gestemmt, zwei schlechte Neuigkeiten, erstens hat Blanka etwa vor einer Stunde ihre Arbeit niedergelegt und ist einfach nach Hause gegangen, das ist einzig und allein eure Schuld, ihr habt sie mir gänzlich verdorben, wo soll ich jetzt so schnell ein neues Küchenmädchen hernehmen und dann haben heute morgen zwei Herren nach euch gefragt, ich habe sie weggeschickt, aber jetzt gehen sie mit einem Foto, das einen von euch beiden zeigt, von Haustür zu Haustür und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder hier auftauchen und mir auf den Kopf zusagen, dass ich euch hier versteckt halte. Am liebsten wäre es mir, wenn ihr euch entschliessen könntet, woanders zu wohnen, hat sie gesagt, ich sehe Schwierigkeiten voraus. Obwohl mich die mangelnde Hilfsbereitschaft der Wirtin enttäuscht hat, habe ich Haltung bewahrt und nach dem Aussehen der Herren gefragt. Der eine ist gross, der andere klein, hat die Wirtin gesagt, beide sind kahlköpfig, meistens spricht der Grosse und der Kleine hört zu, aber dann und wann schneidet der Kleine dem Grossen mit einer Handbewegung das Wort ab und reisst das Gespräch an sich. Ich habe mir vorgenommen, Susanna umgehend von der Entwicklung der Dinge in Kenntnis zu setzen, bin aufgestanden, habe einen Blick aus dem Fenster geworfen und einen Herrn mittleren Alters im Hof stehen sehen. Wer ist das, hab ich die Wirtin gefragt, bin näher ans Fenster getreten und habe den Eindringling scharf ins Auge gefasst. Dass ich über ein phänomenales Personengedächtnis verfüge, weiss sogar Susanna zu würdigen, sie hat sich mehrmals lobend darüber geäussert. Bélas Personengedächtnis ist phänomenal, hat sie schon des öfteren gesagt und mich in diesem Zusammenhang ihr bestes Pferd im Stall genannt. Der Mann da draussen steht schon seit gestern in Ihrem Hof, Frau Wirtin, hab ich gesagt und sie aufgefordert, sich neben mich ans Fenster zu stellen. Ich weiss, aber ich kenne ihn nicht, hat die Wirtin gesagt, das ist keiner von den beiden, die nach Ihnen gefragt haben. Wieso lassen Sie zu, dass fremde Leute in ihrem Hof stehen, hab ich gefragt, aber die Wirtin hat bloss die Achseln gezuckt. Der Herr hat sich unbeobachtet gefühlt und ist langsam vom einen Ende des Hofes zum anderen spaziert, hat immer wieder den Kopf gehoben und zu Ludwigs Fenster hinaufgeschaut. Ludwig lässt seine Fenster ständig offenstehen. Meine Fenster müssen ständig offenstehen, sagt er, wenn man ihn darauf anspricht, ich muss immer frische Luft haben. Weil Ludwigs Fenster also weit offengestanden ist, hat jedermann Ludwigs Flötenspiel mithören können. Der unbekannte Herr hat sich Ludwigs Fenster genähert, ist schliesslich direkt darunter  stehengeblieben und hat die Hand ans Ohr gehoben. So gesehen, war es ein unglückseliges Zusammmentreffen, dass Ludwig ausgerechnet in diesem Augenblick ans Fenster getreten ist. Er hat erst verwundert und dann mit grossem Schrecken auf den Herrn geschaut und seine Flöte sinken lassen. Der Herr hat die Hand ausgestreckt und Ludwig etwas zugerufen, aber Ludwig ist zurückgewichen, hat das Fenster zugeschlagen und die Riegel vorgelegt. Daraufhin hat der Herr sich umgesehen und das Hoftor ins Auge gefasst, aber ich bin schneller gewesen. Ich bin durch den Flur zum Hoftor gerannt und habe den Riegel vorgeschoben. Auch die Eingangstür habe ich versperrt und dadurch wertvolle Zeit gewonnen. Die Wirtin hat protestiert, aber ich habe ihr auseinandergesetzt, dass es jetzt zuallererst darum geht, Ludwig in Sicherheit zu bringen. Können Sie mir den Herrn da draussen eine Weile vom Leib halten, hab ich gefragt, er ist hinter Ludwig her, es ist von äusserster Wichtigkeit, dass ich Ludwig in Sicherheit bringe, die Arbeit von Monaten steht auf dem Spiel. Die Wirtin hat den Kopf nachdenklich hin und hergewiegt und gezögert, na gut, hat sie schliesslich gesagt, ich will mein Möglichstes tun, aber das ist dann auch das letzte, was ich für euch tue, bringt euch in Sicherheit und lasst euch hier nicht mehr blicken. Gut, Frau Wirtin, hab ich gesagt, abgemacht, ich verlasse mich auf Sie. Ich bin eilends die Treppe hinaufgestiegen und habe, ohne anzuklopfen, Ludwigs Zimmer betreten. Er war gerade dabei, seine Habseligkeiten in einen grossen Sack zu werfen. Ich muss weg, hat er gesagt, sie haben mich aufgestöbert, ich muss mich vor ihnen verstecken. Wer ist der Mann, der da unten steht und Ludwig beim Einpacken geholfen, hab ich gefragt, was will er von dir? Ludwig hat sich seitwärts ans Fenster gestellt und einen vorsichtigen Blick hinaus geworfen. Das war mein erster Mentor und Förderer, hat er gesagt, ich bin eine Weile bei ihm geblieben, dann aber, eines Tages bin ich weggerannt. Seither versucht er mich zurückzuholen. Sitze ich jetzt etwa in der Falle, hat er gefragt und gehetzte Blicke um sich geworfen, aber ich habe ihn diesbezüglich beruhigt. Ich bringe dich weg von hier, hab ich gesagt und ihn aufgefordert, seine Habseligkeiten zurückzulassen. Nimm nur das Nötigste mit, wir verstecken uns bei Blanka, ich habe schon alles in die Wege geleitet. Ich habe Ludwig geholfen, ein handliches Bündel zu schnüren, habe die Notenhefte in die Innenseite seiner Manteltasche gesteckt und ihm bedeutet, möglichst leise zu sein. Wir klettern durch das Fenster der Vorratskammer, hab ich geflüstert, direkt in den Nachbarsgarten. Durch das Fenster der Vorratskammer zu klettern, ist eine prekäre Sache gewesen, wir haben uns nur mit Mühe und Not durchzwängen können und uns mit grösster Vorsicht bewegen müssen, aber letztlich ist alles glatt gegangen und wir sind glücklich in den Garten des Nachbarn gelangt. Wir haben uns nach Möglichkeit an die Rückseite der Häuser gehalten, mehrere Gemüsegärten durchqueren und den einen oder anderen Zaun  überklettert. Ludwig hat öfters stehenbleiben müssen und nach Atem gerungen. Weiss Blanka überhaupt, dass wir bei ihr wohnen wollen, hat er besorgt gefragt und ist mehrmals gestolpert. Sie erwartet uns nicht direkt, hab ich gesagt, aber sie weiss Bescheid, ich habe alles geregelt. Als Blankas Elternhaus in Sicht gekommen ist, hat Ludwig seine Schritte verlangsamt. Ich verstecke mich fürs erste hier im Gebüsch, hat er gesagt, und du gehst hinauf und fragst, ob wir überhaupt kommen dürfen. Ludwig hat des öfteren ganz praktikable Ideen, ich habe das schon einige Male feststellen können. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn ich die Lage sondiere, hab ich gesagt und nach einem passenden Versteck für Ludwig Ausschau gehalten. Tatsächlich habe ich hinter stacheligen Himbeersträuchern einen ganz komfortablen Platz ausfindig gemacht, hier kannst du bleiben, bis ich alles geklärt habe, hab ich gesagt, hier findet dich niemand. Ludwig hat zufrieden genickt, das Notenheft aus seiner Manteltasche gezogen, sich auf einen Stein gesetzt und seinen Bleistift gezückt. Lass dir ruhig Zeit, hat er gesagt, ich habe gerade einen Einfall, ich glaube, der Platz inspiriert mich. Er hat zu summen begonnen, ich habe ich mich wieder durch die Himbeersträucher gezwängt und alle Spuren verwischt. Dann bin ich die kleine Anhöhe zu Blankas Elternhaus hinaufgestiegen, habe die Hand gehoben und an die Tür klopfen wollen, aber Blanka ist mir zuvorgekommen. Sie hat die Tür aufgemacht und mich schnell ins Hausinnere gezogen. Ich habe euch kommen sehen, hat sie gesagt, ich weiss Bescheid, einer von euch kann oberhalb vom Schweinestall und einer kann im Schuppen schlafen. Im Schuppen darf allerdings kein Licht gemacht werden, wegen des gelagerten Heus, wenn Ludwig Licht braucht, muss er im Schweinestall wohnen. Ausgezeichnet, hab ich gesagt, obwohl ich mit dem Quartier für Ludwig nicht unbedingt einverstanden war, ausgezeichnet, du weisst, worum es geht? Nicht genau, hat Blanka gesagt, ich weiss nur, dass jemand hinter euch her ist, die Bedienung war gerade hier bei mir, die Wirtin hat sie hergeschickt, weil es in ihrer Küche drunter und drüber geht. Sie hat mir eine Lohnerhöhung versprochen, aber ich habe abgelehnt. Ich hab keine Lust, mich noch länger schikanieren zu lassen, hat sie gesagt, hast du schon mit dem Direktor gesprochen, kann ich bei den Schaustellern mitmachen? Ich habe den Kopf geschüttelt und mich nach den beiden Alten umgesehen. Wo sind deine Eltern, hab ich Blanka gefragt, wissen Sie von uns? Ja schon, hat sie gesagt, aber sie machen gerade einen Gang über die Felder. Ich habe Blanka meine Bedenken, was Ludwigs Quartier über dem Schweinestall betrifft, nicht verhehlt, er wird sich da nicht wohl fühlen, hab ich gesagt, gibt es keinen anderen Platz, etwa dein Zimmer, nur für einige Tage? Aber davon hat Blanka nichts wissen wollen. Es ist ganz komfortabel da über dem Schweinestall, hat sie gesagt, ausserdem schlachten wir das Schwein ohnehin übermorgen, wobei ich auf eure Mithilfe rechne. Wo ist er  denn, hat Blanka gefragt, ich habe auf das Gebüsch am Fuss des Hügels gewiesen. Blanka hat den Kopf geschüttelt. Hol ihn herauf, hat sie gesagt, er könnte ganz leicht dem Jäger vors Gewehr kommen, wenn er da im Gebüsch hockt, das ist gefährlich, weil jetzt doch Jagdzeit ist. Ich bin also den Hügel hinuntergelaufen, habe mich durch das Gebüsch gezwängt und Ludwigs Platz tatsächlich leer gefunden. Sein Bündel war aufgeschnürt und seine Habseligkeiten auf der ganzen Lichtung verstreut. Als es in einiger Entfernung im Gebüsch geraschelt hat, habe ich mich schnell hinter einem Baumstamm versteckt, aber es war bloss Ludwig, der den Kopf nach allen Seiten gedreht und sich möglichst leise bewegt hat. Als ich ihm ganz plötzlich in den Weg getreten bin, hätte ich ihn beinahe zu Tode erschreckt. Wo warst du denn, um Himmels willen, hab ich gefragt und begonnen, seine Habseligkeiten aufzusammeln, ich habe schon das Schlimmste befürchtet, hat dich jemand aufgestöbert? Der Jäger, hat Ludwig gesagt, oder besser sein Hund, er hat Laut gegeben, ich habe gerade noch weglaufen können, meine Sachen aber zurücklassen müssen. Ah, da ist ja mein Notenheft, hat er gesagt, es vom Boden aufgehoben und glattgestrichen. Das Papier hat zahlreiche Abdrücke von Hundepfoten aufgewiesen und die Noten sind manchmal fast unsichtbar gewesen. Du musst auf das Notenheft achtgeben, Ludwig, hab ich gesagt, wäre doch schade drum. Aber Ludwig hat den Kopf geschüttelt, ich habs ohnehin hier drinnen, hat er gesagt und auf seine Stirn gedeutet, ich kanns jederzeit wieder aufschreiben. Dann sind wir langsam zu Blankas Haus hinaufgestiegen, sie hat für dich einen Platz über dem Schweinestall vorbereitet, hab ich gesagt und ihm besorgten Blick zugeworfen. Wirst du da deine Lieder schreiben können, hab ich gefragt, falls nicht, müssen wir etwas anderes für dich finden. Aber sicher, hat Ludwig gesagt, kein Problem. Wird schon gehen, hat er gesagt und sich zuversichtlich gegeben. Er hat einen scheuen Blick auf Blanka geworfen, die vor der Haustür auf uns gewartet hat und ist ihr zum Stallgebäude gefolgt. Die beiden haben die Aussenleiter des Schweinestalls erklommen, aber schon nach wenigen Minuten ist Ludwig wieder heruntergestiegen. Das geht nicht, hat er gesagt, das Schwein grunzt die ganze Zeit, da kann ich mich nicht konzentrieren. Aber wir schlachten es ja ohnehin übermorgen, hat Blanka gesagt, dann kann es nirgendwo ruhiger sein als über dem Schweinestall. Ludwig hat mich ratlos angeschaut und ich bin darangegangen, einen anderen Platz für ihn zu finden. Das mit dem Schweinestall geht nicht, habe ich zu Blanka gesagt, wenn er ein brauchbare Lieder schreiben soll, braucht er Ruhe, gute Luft und ein Mindestmass an Komfort. Sie hat sich umgedreht, ist ins Haus gegangen und ich bin ihr langsam gefolgt. Als mein Blick auf eine Tür an der Stirnseite des Flurs gefallen ist, habe ich nicht lange gezögert. Du hast wohl nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig umsehe, hab ich gesagt und die Tür geöffnet. Der Raum dahinter ist offenbar das Schlafzimmer von Blankas Eltern gewesen, zwei grosse Betten und ein Kleiderschrank haben das Zimmer beinahe zur Gänze ausgefüllt, vor eines der kleinen Fenster war ein Tisch und ein leidlich bequem aussehender Sessel gerückt. Was ist das, hab ich gefragt, können wir das nicht für einen Weile haben? Ungern, hat Blanka gesagt, es ist das Schlafzimmer meiner Eltern, sie werden protestieren. Aber ich habe eine wegwerfende Handbewegung gemacht,  jetzt, wo meine monatelangen Vorarbeiten endlich Früchte tragen, kann ich mich von kleinlichen Einwänden nicht aufhalten lassen. Deine Eltern werden so freundlich sein, und für eine Weile im Schweinestall Quartier beziehen, hab ich gesagt, die Karriere ihrer Tochter steht auf dem Spiel, das kleine Opfer bringen sie gern, ich bin sicher. Ich bin unverzüglich darangegangen, ein paar Veränderungen vorzunehmen, habe die altertümlichen Betten in eine Ecke geschoben und den Tisch in die Mitte des Raumes gerückt. Ludwig braucht mehr Platz, hab ich gesagt, er muss, wenn er in Gedanken ist, hin- und hergehen können. Den persönlichen Kram der Alten habe ich auf den Küchentisch gehäuft. Blanka ist im Flur gestanden und hat mir zugesehen. Ich habe sie aufgefordert, mir ein wenig zur Hand zu gehen und sie hat, ein wenig zögernd, die Nachtkästchen leergeräumt. Als die Alten von ihrem Gang über die Felder zurückgekommen sind, hat Blanka sie schon im Hof von der Lage der Dinge in Kenntnis gesetzt. Sie haben sich problemlos in die neue Lage gefügt und über dem Schweinestall Quartier bezogen. Ich gebe zu, dass ich ein wenig verwundert war über ihre Fügsamkeit. Ludwig ist mit  seinem Quartier hochzufrieden gewesen, hat sich an den Tisch gesetzt, das Notenheft zurechtgerückt, immer wieder ein- und dieselbe Melodie gesummt und mit dem Fuss den Takt dazugeklopft. Die Gitarre, die wir einfach mitgenommen haben, ohne die Wirtin eigens deswegen zu fragen, ist unbeachtet auf einem der Betten gelegen. Ich habe sie Ludwig in die Hand gedrückt, er hat folgsam die Finger seiner linken Hand um den Gitarrenhals gelegt und die rechte locker an die Saiten gelegt. Ich habe das Ende, hat er gesagt und eine tatsächlich interessante Tonfolge gespielt, hörst du den aufsteigenden Septakkord? Schreibs am besten gleich auf, hab ich gesagt, und mehrere scharf gespitzte Beistifte vor ihn hingelegt. Dann habe ich die Tür leise ins Schloss gezogen, mir von Blanka Briefpapier bringen lassen  und Susanna von unserer geänderten Lage benachrichtigt. Unsere Situation ist die verworrendste, habe ich geschrieben, die Dinge eskalieren, mehrere Leute sind hinter Ludwig her, aufgrund der neuen Situation haben wir uns verstecken müssen, schicke allfällige Nachricht nur mehr postlagernd, auf keinen Fall an das Wirtshaus, dort haben  sich unsere Verfolger breit gemacht und könnten versuchen, sich meine Briefe anzueignen. Ich habe den Brief ins Kuvert gesteckt und Blanka gebeten, ihn gleich morgen für mich in den Postkasten zu werfen. Aber sie hat den Kopf geschüttelt und mir bedeutet, dass sie morgen keine Zeit haben wird. Dann hat sie sich mir gegenüber an den Küchentisch gesetzt und vom Schlachtfest zu reden begonnen. Übermorgen ist der grosse Tag, hat sie gesagt, alle Nachbarn sind verständigt, der Schlächter hat fix zugesagt, er ist die gefragteste Person zur Zeit, wenn er abgesagt hätte, hätte einer von uns einspringen müssen. Ich habe sie überreden wollen, das Ganze noch ein paar Tage zu verschieben, nur solange, bis Ludwig seine Lieder geschrieben hat, hab ich gesagt, aber davon hat Blanka nichts wissen wollen.   „Ganz ausgeschlossen, der Schlächter ist auf Wochen ausgebucht.“ Sie hat mir geschildert, wie so ein Schlachtfest normalerweise abläuft und ich habe ihr meine Skepsis nicht verhehlt. Ob das auf Ludwig sonderlich inspirierend wirkt, ist noch sehr die Frage, hab ich gesagt, ich halte den Zeitpunkt für denkbar ungünstig. Aber Blanka hat nicht mit sich reden lassen und über meine Versuche, sie umzustimmen, nur den Kopf geschüttelt.  „Es bleibt bei morgen.“

 

 

17
Wasserblau

 

 

Natürlich habe sich alle meine Befürchtungen mehr als bestätigt. Das Schlachtfest war Ludwigs Konzentration ganz und gar nicht zuträglich, wieso soll ich auf meinem Zimmer bleiben, während sich alle anderen vergnügen, hat er gesagt und sich den ganzen Tag erst bei den Männern im Hof, dann bei den Frauen in der Küche herumgetrieben. Nur während der Schlachtung ist er hinaus vors Hoftor gegangen, aber das Zerlegen und Sortieren der Fleischteile hat er  bereits wieder mit Interesse verfolgt. Er ist den Frauen in der Küche bei allen Arbeiten zur Hand gegangen und weil Ludwig normalerweise fast krankhaft schüchtern ist, habe ich mich über sein Verhalten gar nicht genug wundern können. Immer wieder habe ich ihn hinauf in sein Zimmer geschickt, dein Notenheft wartet, wie soll Blanka denn jemals zu ihren Liedern kommen, wenn du deine Zeit vertrödelst, hab ich mehrmals zu ihm gesagt, aber schon nach kurzer Zeit ist er wieder irgendwo im Haus aufgetaucht. Was soll das, Ludwig, hab ich gesagt, wie weit bist du mit deinen Liedern, Blanka wird nie bei den Schaustellern mitmachen können, wenn du nichts zustande bringst, ausserdem solltest du dich nach Möglichkeit von den Leuten fernhalten, man muss sie nicht mit der Nase auf unsere Ähnlichkeit stossen, vergiss nicht, dass wir sozusagen auf der Flucht sind. Als ich am Abend des zweiten Tages Blankas Nachbarn von einem Fremden habe reden hören, war ich aufs Höchste alarmiert und habe Blanka Vorhaltungen gemacht. Aber sie hat bloss die Achseln gezuckt. Du wolltest doch nur deine Nachbarn einladen, hab ich gesagt, denkst du nicht an Ludwigs prekäre Situation, was soll der Fremde hier im Haus? Na schön, da ist ein Fremder, hat Blanka gesagt, aber er ist ganz harmlos, er will sich bloss alles ansehen, für Fremde ist so ein Schlachtfest überaus interessant. Ich habe sie aufgefordert, mir den Eindringling zu zeigen und sie hat die Hand ausgestreckt und auf einen Mann gewiesen, der mir gänzlich unbekannt war. Ich habe ihn scharf ins Auge gefasst, an verschiedenen untrüglichen Zeichen den Berufskollegen erkannt und Blanka mit einem Mal aufs Äusserste misstraut. Weil ich gelernt habe, diesbezüglich auf meine Instinkte zu hören, habe ich beschlossen, Ludwig unverzüglich in Sicherheit zu bringen. Wo ist Ludwig, habe ich Blanka gefragt. Auf seinem Zimmer, hat sie gesagt, er hat sich mit den Frauen in der Küche überworfen und schmollt jetzt. Ich bin eilig zu ihm gegangen und habe ihm einen Ortswechsel vorgeschlagen. Es hat sich ausgezeichnet getroffen, dass er gerade dabei war, aus seinen Habseligkeiten ein Bündel zu schnüren, hier will ich nicht mehr bleiben, hat er gesagt und das Notenheft in der Innentasche seines Mantels verstaut, ich muss jetzt immer an das arme Schwein denken, in einer Stunde wird es gegessen, Blutwurst und Leberwurst und Niere und Herz sind schon zubereitet, mir wird übel, wenn ich nur daran denke. Schon gut, Ludwig, hab ich gesagt, ich verstehe, dass dir das Schwein leid tut, möchtest du etwa zurück in dein Häuschen am Fluss?  Ludwig hat eifrig genickt und ich bin unverzüglich darangegangen, alle Vorbereitungen für einen möglichst unbemerkten Ortswechsel zu treffen. Keiner soll merken, wenn wir uns auf den Weg machen, hab ich zu Ludwig gesagt, wir wollen alles geheimhalten. Ich habe ihm auch von meinem Misstrauen Blanka gegenüber erzählt, es könnte sein, dass sie ein doppeltes Spiel spielt, hab ich gesagt, es könnte sein, dass sie sich mit deinen Verfolgern verbündet hat, allergrösste Vorsicht ist angebracht. Aber was wird dann aus meinen Liedern, hat Ludwig gefragt, ich habe sie so gut wie fertig, alle sind eigens für Blankas Organ geschrieben, ich dachte, sie will unbedingt bei den Schaustellern mitmachen. Die besten Lieder, die ich je geschrieben habe, hat er gesagt, das Notenheft aus der Manteltasche gezogen und mir die engbeschriebenen Seiten gezeigt. Ich habe die Hand danach ausgestreckt. Gib es mir, Ludwig, hab ich gesagt, bei mir ist es sicher, ich hüte es wie meinen Augapfel. Ludwig hat mir das Notenheft ausgehändigt, ich habe es sorgfältig in meiner Brusttasche verstaut und mich zum Gehen gewandt. Wir treffen uns um Mitternacht beim Weiher, hab ich zu Ludwig gesagt, bringe alle deine Sachen mit, versorge dich mit Proviant aus der Speisekammer und sieh zu, dass dich niemand zu Gesicht bekommt. Auch ich habe mich in die Speisekammer geschlichen, mich mit dauerhaften Nahrungsmitteln versehen, habe im Flur den allerwärmsten Schafspelz und eine alte Pferdecke vom Haken genommen und bin dann auf Zehenspitzen aus dem Haus geschlichen. Über den Hinterhof bin ich ungesehen aufs offene Feld gelangt. Ich habe mich so gut wie möglich beeilt, obwohl der Direktor seit einiger Zeit die Zügel schleifen lässt, lege ich es nach wie vor darauf an, wenigstens einigermassen pünktlich zu sein. Ich habe den Garderobenraum möglichst  unbefangen betreten, obwohl ich zwei Tage unentschuldigt gefehlt habe. Man wird es mir nicht nachtragen, hab ich mir gedacht, schliesslich habe ich gute Gründe gehabt. Wir beginnen mit der Pudelnummer, hat die Dompteuse gesagt und mich mit einem Lächeln und ohne neugierige Fragen begrüsst. Sie hat die Garderobenfrau angewiesen, mein Kostüm zu bringen. Wo warst du denn die letzten Tage, hat sie gefragt und sich neugierig vorgebeugt, wir haben euch schon verloren gegeben, nach euch wird allerorten gesucht. Ich habe eingeräumt, dass mir die Dinge in den letzten Tagen ein klein wenig aus dem Ruder gelaufen sind, man bedrängt uns in der Tat von allen Seiten, hab ich gesagt, wir werden uns verstecken müssen, bis wieder Ruhe eingekehrt ist. Die Dompteuse hat genickt, mir bedeutet, ein wenig näherzukommen und ihre Stimme gesenkt. Zwei Herren haben sich vorhin angelegentlich nach dir erkundigt, hat sie gesagt, zwei Herren, die so aussehen, als würden sie keinen Spass verstehen, wir haben euch natürlich gedeckt, aber jetzt sitzen sie in der dritten Reihe und warten auf dein Erscheinen. Wie sehen die Herren aus, hab ich gefragt und nach der Beschreibung der Dompteuse zumindest den einen Herrn aus dem Gasthof unzweifelhaft wiedererkannt. Die Wirtin muss mich verraten haben, hab ich mir gedacht und mein Pflichtbewusstsein verwünscht. Ich hätte wegbleiben sollen, ihr wärt sicher auch ohne mich zurandegekommen, hab ich zur Dompteuse gesagt und sie, was mein weiteres Vorgehen betrifft, um Rat fragen wollen, aber sie da sie vor ihren Auftritten immer an Lampenfieber leidet, hat sie sich nicht länger mit meinen Problemen auseinandersetzen wollen. Die Vorstellung beginnt gleich, hat sie gesagt, ich muss mich konzentrieren, die Tiere sind heute besonders nervös. Als die Garderobenfrau mein venezianisches Kostüm gebracht hat, habe ich den Kopf geschüttelt. Ausgeschlossen, hab ich gesagt, ich kann mich unmöglich auf der Bühne blicken lassen, was ist, wenn ich erkannt werde? Ich kann ohne Assistenz nicht arbeiten, hat die Dompteuse gesagt, was stellst du dir vor, du weisst doch, wie renitent die Hunde sind, ausserdem bist du auf der Bühne ohnehin noch am sichersten vor  jeder Entdeckung, schliesslich trägst du dein Kostüm und hältst dir ganze Zeit die Maske vors Gesicht. Auf der Bühne bist du so sicher wie nirgendwo sonst, hat sie gesagt und ich habe ihr schliesslich rechtgeben müssen. Selbst wenn mich meine Verfolger erkennen, was nicht sehr  wahrscheinlich ist, müssen sie während der Vorstellung im Zuschauerraum bleiben, hab ich mir gedacht, mein Kostüm angezogen und mich nach meiner Maske umgesehen. Meine Maske zeigt ein lächelndes Harlekingesicht an einem langen Holzstab und kommt beim Publikum  sehr gut an. Nur mit den Tieren gibt neuerdings andauernd Schwierigkeiten, sie reagieren gereizt, ich habe sogar schon die eine oder andere Bisswunde hinnehmen müssen und der Dompteuse deswegen schon mehrmals vorgeschlagen, die Nummer ersatzlos zu streichen. Gottlob ist an diesem Abend alles klaglos vonstatten gegangen, wir haben reichlich Applaus bekommen und uns zweimal verbeugen müssen. Durch meine Maske habe ich das Publikum und vor allem die beiden Männer in der dritten Reihe unauffällig ins Auge fassen können. Ich habe sie einträchtig nebeneinander sitzen sehen und mehrere untrügliche Merkmale haben mir gesagt, dass ich es auch hier mit Berufskollegen zu tun habe und dass ich gut daran tue, Ludwig sobald wie möglich in Sicherheit zu bringen. Ich bin eilends in die Künstlergarderobe gegangen, um mich umzuziehen und dort auf den Gesellen des Spassmachers gestossen. Solltest du nicht längst auf der Bühne sein, hab ich ihn gefragt, aber er hat den Kopf geschüttelt, unsere Nummer fällt heute aus, hat er gesagt, es geht jetzt nicht mehr so streng zu wie am Anfang, wir haben die einzelnen Nummer umgruppiert, deine und Samsons bildet den Abschluss, es ist reichlich Zeit bis dahin. Lass uns ein klein wenig plaudern, hat der Geselle des Spassmachers gesagt, mich zu sich gewunken und auf einen Sessel in seiner Nähe gewiesen. Setz dich hierhin, hat er gesagt, du bist doch aufs äusserste besorgt, vielleicht kann ich dir raten, erzähle mir alles, halte mit nichts hinter dem Berg, sag mir, wie die Dinge liegen, rückhaltlose Offenheit ist das Beste in Fällen wie diesen. Ich habe mir das nicht zweimal sagen lassen, bin ein wenig nähergerückt und habe dem Gesellen des Spassmachers die Sache mit Ludwig in allen Details auseinandergesetzt. Anfangs ist es nur darum gegangen, seine Blockade zu brechen, hab ich gesagt und meine Stimme gesenkt, das ist mir gelungen, ich habe seine Blockade zur Gänze beseitigt, er hat bereits mehrere Lieder geschrieben, diesbezüglich habe ich meine Aufgabe so gut wie erfüllt, es geht jetzt nur noch darum, Ludwig samt seinem Notenheft wieder wohlbehalten bei meinem Auftraggeber abzuliefern. Dass jetzt allerorten Männer auftauchen, die, so wie ich, hinter Ludwig her sind, ist ein wahres Unglück, der Zeitpunkt könnte ungünstiger nicht sein. Was rätst du mir, hab ich gefragt, kennst du ein gutes Versteck, wie soll ich vorgehen? Du musst Ludwig unverzüglich in Sicherheit bringen, hat der Geselle des Spassmachers gesagt, sonst wird man ihn dir über kurz oder lang wieder abjagen, dann ist deine ganze Mühe umsonst gewesen, ich rate zu einem Fussmarsch über den Berg, bring ihn über den Berg ins dahinterliegende Tal, dort findet euch niemand, dort seid ihr für eine Weile sicher und du kannst über deine nächsten Schritte nachdenken. Ich habe eine Weile über diesen Vorschlag nachgedacht und ihn schliesslich für gut befunden. Dann hat mich der Geselle des Spassmachers zur Eile aufgefordert. Du musst nochmals auf die Bühne, hat er gesagt, Samson wartet schon, du weisst doch, er wird wütend, wenn man ihn allzu lang warten lässt. Ich habe mich also beeilt, auf die Bühne zu kommen und, was die Nummer mit Samson betrifft, mein Bestes gegeben. Ausserdem ist mir meine Routine zu Hilfe gekommen. Ich fessle Samson mit starken Schnüren, knüpfe besonders feste Knoten und mache dem Publikum klar, dass Samson sich nie und nimmer befreien wird können. Dann lege ich Feuer an die Schnurenden und Samson hat genau eine halbe Minute Zeit, sich zu befreien,  zum Schluss stampfe ich das Feuer mit meinen Füssen aus, das alles sind Dinge, die ich im Schlaf kann. Die Nummer mit Samson ist Höhepunkt und jetzt auch Ende unserer bunten Abende im Sporthotel. In der Anfangszeit hat es dann noch ein Schlussdefilee aller Darsteller gegeben, aber das lassen wir schon seit einiger Zeit einfach weg. Statt dessen drehen wir einfach das Licht aus, damit wissen die Zuschauer, dass die Vorstellung zu Ende ist, hören auf, in die Hände zu klatschen und räumen das Feld. Samson hat mich aufgefordert, mit in die Bahnhofswirtschaft zu kommen, wir feiern die fünfzigste Vorstellung, hat er gesagt, aber ich habe abgelehnt. Ein andermal vielleicht, hab ich gesagt, bin in den Garderobenraum gelaufen, habe meine Strassenkleider angezogen und mich unverzüglich zum Weiher aufgemacht. Ludwig hat bereits ungeduldig gewartet, wo bleibst du denn so lange, hat er gefragt, ich warte schon ewig. War gar nicht einfach, ungesehen aus dem Haus zu kommen, hat er gesagt, mein Aufbruch ist unter keinem guten Stern gestanden, Blanka hat wegen des Schlachtfests die Hoflampe brennen lassen, ich habe keine Möglichkeit gehabt, mich mit Proviant zu versehen, so wie du es mir aufgetragen hast. Aber sieh her, was ich gefunden habe, hat er gesagt und eine Wanderkarte aus der Tasche gezogen, ich hab ein wenig in Blankas Zimmer gestöbert, da ist mir die Karte in die Hände gefallen, sie wird uns wertvolle Dienste leisten, meinst du nicht? Wir wollen die abgelegensten Wege nehmen, hab ich gesagt und zweifelnd auf den vor uns liegenden, steil aufragenden Bergrücken geschaut, womöglich solche, die auf keiner Karte  eingezeichnet sind. Wir wollen es unseren Verfolgern möglichst schwer machen. Ich habe einen Teil meiner Vorräte in Ludwigs Bündel verstaut und dann das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Wir haben die mondbeschienenen, brachliegenden Felder beinahe im Laufschritt überquert und uns dann ohne Zögern an den Aufstieg gemacht. Ludwig hat sich tadellos gehalten und erst gegen Morgen über Müdigkeit geklagt. Ich habe eine Holzfällerhütte gefunden, die Tür aufgebrochen und uns so ein Dach über dem Kopf verschafft. Während Ludwig sich ausgeruht hat, habe ich ein Feuer im Herd angefacht und Wasser vom Brunnen geholt. Dann habe ich unsere Vorräte in mehrere Tagesrationen eingeteilt und gesehen, dass unser Essen etwa fünf Tage reichen wird. Als Ludwig aufgewacht ist, habe ich ihn von dieser Tatsache in Kenntnis gesetzt, aber er hat bloss die Achseln gezuckt und sich mit Appetit über seine Ration hergemacht. Wir werden nur nachts wandern, hab ich gesagt und uns tagsüber verborgen halten, das ist das Sicherste. Ludwig ist mit allem einverstanden gewesen, hat sich nochmals hingelegt und ist bald wieder eingeschlafen, auch ich bin ein wenig eingenickt. Im Morgengrauen bin ich ruckartig aufgewacht und habe Ludwig geweckt. Wir wollen jetzt unverzüglich aufbrechen, hab ich gesagt, und sehen, dass wir heute eine möglichst grosse Strecke zurücklegen. Ludwig ist schlaftrunken hinter mir hergestolpert, mehrmals über lose Äste und Strauchwerk gefallen und hat sich laut fluchend immer wieder aufrappeln müssen. Meiner Unachtsamkeit muss ich es zuschreiben, dass wir viel zu nahe an ein abgelegenes Gehöft gelangt sind. Das Hundegebell hätte mich warnen müssen, aber ich habe zu spät reagiert. Erst als man die Hunde auf uns gehetzt hat, habe ich das Zeichen zur Umkehr gegeben. Eine Weile habe ich die Hunde von mir und Ludwig fernhalten können, als Ludwig aber in Panik geraten ist und davonlaufen wollte, hat ihn einer der Hunde ins rechte Bein gebissen. Ich habe einen dicken Stock aufgehoben und auf den Hund eingeschlagen, solange, bis er schliesslich von Ludwig abgelassen hat. Ludwig hat sich nur mühsam auf den Beinen gehalten, ich habe ihn gestützt, ihn aus der Gefahrenzone geführt, die Bisswunde inspiziert und sie nicht weiter bedenklich gefunden. Aber obwohl Ludwig sich alle Mühe gegeben hat, sind wir in dieser Nacht nicht recht vorwärtsgekommen. Kurz nach Mitternacht habe ich eine Holzfällerhütte aufgebrochen, um uns ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Ich habe Ludwigs Wunde notdürftig versorgt, an Verbandszeug hat natürlich keiner von uns gedacht, also habe ich Ludwig aufgefordert, einen Streifen Stoff von seinem Hemd abzureissen, den ich dann um seinen Knöchel gebunden habe. Sobald Ludwig eingeschlafen war, habe ich Susanna von unserer geänderten Lage in Kenntnis gesetzt. Unsere Flucht ist fürs erste geglückt, habe ich geschrieben, wir kommen auf markierten Wegen sicher vorwärts, meiden natürlich Ansiedlungen und Dörfer und machen in Zukunft sogar um einzelne Bauernhöfe einen grossen Bogen. Das hat uns der gravierende Fehler, der uns heute unterlaufen ist, gelehrt, habe ich geschrieben, man hat die Hunde auf uns gehetzt und einer von ihnen hat Ludwig ins rechte Bein gebissen. Was das für die Zukunft bedeutet, kann ich noch nicht sagen. Gottlob findet man in diesem Waldgebiet immer wieder einen Unterschlupf, habe ich an Susanna geschrieben, ob es mir gelungen ist, unsere Verfolger abzuschütteln, wird sich erst zeigen. Ludwig hat um sich geschlagen und im Schlaf gesprochen, ich habe den Brief an Susanna sorgsam gefaltet und in meine Brusttasche gesteckt. Dann bin auch ich ein wenig eingenickt. Diesmal ist es Ludwig gewesen, der mich geweckt hat, er hat meinen Namen gerufen und mich angestossen. Ich bin ein wenig benommen gewesen und habe wortlos meine Habseligkeiten zusammengesucht. Wir haben wegen Ludwigs Verletzung unser Tempo erheblich reduzieren müssen, und sind nur langsam vorangekommen. Ludwigs Laune hat sich zusehends verschlechtert und obwohl ich meine Geschwindigkeit ohnehin an seine angepasst habe, hat er mir mehrmals vorgeworfen, ihn abhängen zu wollen. Wieso soll ich dich abhängen wollen, Ludwig, hab ich gefragt, wir sind doch auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet, vergiss nicht, dass wir verfolgt werden. Aber Ludwig hat sich immer mehr in Rage geredet und mich schliesslich aufgefordert, ihn doch einfach zurückzulassen, los verschwinde, hat er zu mir gesagt, lass mich allein, ich komme schon irgendwie zurecht. Wieso hängst du dich überhaupt an mich, hat er gesagt und mir einen tückischen Blick zugeworfen, dich geht das im Grunde ja überhaupt nichts an und wieso siehst du überhaupt aus wie ich, das frage ich mich schon die ganze Zeit, wie das kommt, dass du aussiehst wie ich. Es ist in den vergangenen Wochen bereits einige Male vorgekommen, dass Ludwig die Sprache auf unsere verblüffende Ähnlichkeit gebracht hat, aber es ist mir immer gelungen, ihn abzulenken. Ist doch egal, wie einer aussieht, hab ich auch diesmal leichthin gesagt und beteuert, dass unsere Ähnlichkeit eine rein zufällige ist. Als es an der Zeit war, seine Wunde neu zu verbinden, hat er das selbst tun wollen und nicht zugelassen, dass ich ihm dabei zur Hand gehe. Lass es mich ansehen, Ludwig, hab ich gesagt, zeig mir deine Wunde, aber er hat bloss störrisch den Kopf geschüttelt. Ich habe die Schnapsflasche aus meinem Bündel geholt und ihm schweren Herzens angeboten, zu Desinfektionszwecken ein wenig Schnaps über seine Wunde zu giessen, aber das hat er abgelehnt. Ich nehme aber gern einen zusätzlichen Schluck, hat er gesagt. Darauf bin ich selbstredend nicht  eingegangen. Der Schnaps muss reichen, bis wir wieder in ein Dorf kommen und die Flasche ist nur mehr zu einem Drittel voll, hab ich gesagt und sie wieder zuunterst in mein Bündel gesteckt. Dann sind wir eine Weile ganz gut vorangekommen, sind einem steinigen Pfad auf immer engeren Kehren steil bergan gefolgt und haben beträchtlich an Höhe gewonnen. In der Morgendämmerung sind wir auf eine Holzfällerhütte gestossen, ich habe sie aufgebrochen, Ludwig hat sich unverzüglich schlafen gelegt und ich habe den Brief an Susanna aus meiner Brusttasche gezogen. Wir haben beträchtlich an Höhe gewonnen, auf menschliche Ansiedlungen stossen wir kaum mehr, habe ich geschrieben, gottlob treffen wir immer zum rechten Zeitpunkt auf eine Holzfällerhütte, Ludwig hält sich recht tapfer, leider liegt der anstrengendste Teil unseres Weges noch vor uns, der Berg steigt jetzt sehr steil bergan, er ist auf der Wanderkarte mit einer Höhe von eintausendzweihundert Meter eingezeichnet. Ich weiss nicht, wie Ludwig diesen Höhenunterschied mit seinem verletzten Bein bewältigen will, habe ich geschrieben, aber sooft ich die Sprache darauf bringe, fordert er mich auf, mich gefälligst um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wir werden, sobald wir wieder im Tal sind, ein Zimmer in einem billigen Gasthof nehmen, damit Ludwig sein Bein auskurieren kann, habe ich an Susanna geschrieben und bin unversehens ans Ende des Briefbogens gelangt. Ich habe noch ein paar Mitteilungen an die Seitenränder gekritzelt, das Blatt gefaltet, in ein Kuvert gesteckt, es an Susanna adressiert und in meine Jackentasche gleiten lassen. Dann habe ich mich nach Ludwig umgesehen. Ich habe ihn wach gefunden, er hat jede meiner Bewegungen genauestens verfolgt und ich habe, nicht zum erstenmal, feststellen müssen, dass er mir misstraut. An wen schreibst du denn da, hat er gefragt, immer schreibst du und bekommst du Briefe, glaubst du, ich merke das nicht? Ich habe ausweichend geantwortet, auf das schwächer werdende Tageslicht hingewiesen und das Zeichen zum Aufbruch gegeben. Wir sind unentwegt bergan gestiegen, das letzte steilste Stück hat Ludwig einige Schwierigkeiten bereitet, als das Hochplateau endlich erreicht war, hat er sich, völlig erschöpft, ins Gras fallen lassen. Sieh her, Ludwig hab ich gesagt, die Hand ausgestreckt und ihn auf die Lichter im Talgrund aufmerksam gemacht. Der Abstieg ins Tal ist allerdings alles andere als einfach gewesen und mein Vorsatz, uns tagsüber immer verborgen zu halten, hat sich diesmal nicht durchführen lassen. Das Dorf ist völlig abgelegen, hab ich zu Ludwig gesagt, der sich mehrmals vor harmlosen Wanderern verstecken wollte, du brauchst keine Angst zu haben, es ist unwahrscheinlich, dass unsere Verfolger hierhergelangen, wir werden uns im Gasthof einquartieren und müssen uns nicht länger verstecken. Als wir so gegen die Mittagszeit ins Dorf einmarschiert sind, ist der Kirchenvorplatz voller Menschen gewesen, obwohl meine und Ludwigs Ähnlichkeit unter den Dorfbewohnern einiges Aufsehen erregt hat, sind wir gänzlich unbehelligt geblieben und ich habe mich sofort auf die Quartiersuche gemacht. Als ich ein reinliches Zimmer im Gasthof gleich hinter dem Pferdemarkt habe mieten wollen, hat Ludwig Einwendungen gemacht. Niemand der auf sich hält, wohnt unter einem Dach mit den Rosstäuschern, hat er gesagt und diesbezüglich nicht mit sich reden lassen. Gottlob hat es noch ein zweites Wirtshaus gegeben, das auch Ludwig zugesagt hat. Ich habe zwei Einzelzimmer mit Blick auf die Pferdekoppel verlangt und wöchentliche Bezahlung vereinbart. Während ich mit dem Wirt verhandelt habe, ist Ludwig zur Hintertür gehinkt, hat sie aufgemacht und einen Blick auf die Stallungen geworfen. Der Wirt ist ihm mit den Blicken gefolgt, hat über Ludwigs Zustand den Kopf geschüttelt und von sich aus angeboten, für ärztliche Hilfe zu sorgen. Wir haben bei uns im Dorf hervorragende Ärzte, die wahre Wunder vollbringen, hat er gesagt und Ludwig von oben bis unten gemustert, da steht eine abgehalfterte Schindmähre im Handumdrehen als Rassepferd da, ich übertreibe nicht, nicht im geringsten. Aber Ludwig hat abgelehnt. Nicht notwendig, hat er gesagt und sein lädiertes Bein ein wenig in die Höhe gehoben, das ist bloss eine kleine Schwellung, weiter nichts von Bedeutung, das heilt ganz von allein. Ich habe dem Wirt mit einer Grimasse zu verstehen gegeben,  dass Ludwig selbst zu entscheiden hat, er hat uns die Schlüssel zu unseren Zimmern ausgehändigt und die Achseln gezuckt. Die Woche Schonung, die ich Ludwig zugestanden habe, wir sind fast eine Woche in dem Gasthof  geblieben, damit er sich auskurieren kann, hat aber letztlich gar nichts genützt und zu allem Überfluss hat er sich weiter beharrlich geweigert, einen Arzt aufzusuchen. Statt dessen hat er sich von den Einheimischen von einer Wunderheilerin erzählen lassen und ist zur Überzeugung gekommen, dass nur sie allein ihm helfen kann. Ich habe ihn von der Sinnlosigkeit eines solchen Unternehmens überzeugen wollen, aber es war nicht zu reden mit ihm. Er hat sich von einer der Küchenhilfen den Weg zur Wunderheilerin aufs genaueste beschreiben lassen und verkündet, dass er sich am nächsten Tag aufsuchen wird. Natürlich habe ich es mir zur Pflicht gemacht, ihn zu begleiten und bin mit ihm gemeinsam in der Morgendämmerung aufgebrochen. In dem undurchdringlichen Waldgebiet, das sich gleich hinter dem Dorf ausgebreitet hat, haben wir uns aber sehr bald heillos verirrt. Die Wegangaben der Küchenhilfe sind die ungenauesten gewesen, ausserdem Ludwig ist nur sehr langsam vorangekommen, hat immer wieder lange Pausen einlegen müssen und mich schliesslich  gebeten, eine Holzfällerhütte aufzubrechen, damit er sich ein wenig ausruhen kann. Ich habe ein Feuer gemacht, damit er nicht frieren muss und bin dann ins Dorf zurückgekehrt, um mir den Weg zur Wunderheilerin nochmals und genauer beschreiben zu lassen. Noch während ich auf dem Rückweg ins Dorf war, hat sich aber ein Unwetter zusammengebraut. Der Wirt hat mir den Weg zur Wunderheilerin nochmals genau beschrieben, mich dann aber überredet, die Nacht über im Gasthof zu bleiben. Es gibt nicht Gefährlicheres als diese plötzlichen Unwetter, hat er gesagt, und das wird noch viel schlimmer, der Wind wird noch weiter zunehmen, da werden hundert Jahre alte Bäume geknickt wie die Streichhölzer, ihr Freund mag in der Hütte ja relativ sicher sein, aber Sie begeben sich in ernsthafte Gefahr, warten Sie lieber bis morgen. Nach einigem Zögern habe ich eingesehen, dass er es nur gut mit mir meint und bin im Gasthof geblieben. Weil ich der einzige Gast gewesen bin, hat er sich neben mich gesetzt, seine Abrechnung gemacht und mich mit kleinen Geschichten und Anekdoten unterhalten. Sie können ja auch morgen noch bleiben. hat er nach einer Weile gesagt, ist das Wetter einmal schlecht, bleibt es meist tagelang so. Ihr Freund sorgt schon für sich selber, hat er gesagt, es schadet ihm nichts, wenn er ein paar Tage auf sich gestellt ist, das regt die Selbstheilungskräfte an. Es ist dann in der Tat so gewesen, dass der Sturm mehrere Tage angehalten hat und es gefährlich gewesen wäre, in den Wald zu gehen. Ich bin  mehrere Tage im Gasthof geblieben, als sich das Wetter gebessert hat, habe ich mich ohnehin eilends auf den Weg zu Ludwig gemacht. Dass ich die Hütte leer vorgefunden habe, hat mich anfangs nicht weiter beunruhigt. Ich habe mehrmals nach ihm gerufen, erst als ich die Hütte genauer in Augenschein genommen habe, habe ich an der Unordnung bemerkt, dass ein Kampf stattgefunden haben muss. Ich habe mich auf die Suche nach Indizien gemacht, wie es die Fibel für den Privatdetektiv empfiehlt und an einem herausragenden Nagel einen langen, wollenen, orangeroten Faden gefunden. Der lange, wollene, orangerote Faden hat  mich an Blankas orangerote Strickweste erinnert, ohne die man sie kaum jemals zu Gesicht bekommen hat. Sie haben also Blanka geschickt, um Ludwig wieder in ihre Gewalt zu bringen, hab ich mir gedacht und das als schlauen Schachzug anerkennen müssen. Ich habe nicht gewusst, was als nächstes zu tun ist, bin eine Weile gänzlich ratlos gewesen und hätte gerne Rücksprache mit Susanna gehalten. Weil das nicht möglich war, bin ich ins Dorf zurückgegangen und habe mich dem Wirt anvertraut. Sie müssen den Weg nochmals gehen, hat er gesagt, denselben Weg über den Bergrücken, alles nochmals, zurück bis zum Ausgangspunkt, vielleicht holen Sie die beiden ja ein, vergessen Sie nicht, dass Ludwig mit seinem lädierten Bein nur langsam vorwärtskommt. Ich habe mich also erneut auf den Weg über den Bergrücken gemacht und habe meine Ruhepausen so kurz wie möglich gehalten. Am Abend des dritten Tages bin ich auf einen Holzfäller gestossen und habe ihn in ein Gespräch gezogen. Bin ich Ihnen schon einmal begegnet, hab ich gefragt, und wenn ja, wann und wo. Er hat einen Augenblick nachgedacht, mich scharf ins Auge gefasst und dann zögernd genickt. Aber ja, hat er gesagt, gestern oder war es vorgestern, sind wir uns auf dem Hochplateau begegnet, Sie haben mich nach dem Weg gefragt, die Frau, die bei Ihnen war, ist schon gänzlich erschöpft gewesen und ich habe ihr, damit sie wieder zu Kräften kommt, einen Schluck aus meiner Schnapsflasche angeboten. Ich habe Ihnen den Weg also so gut wie möglich beschrieben, aber ihr müsst euch trotzdem verirrt haben, denn am Abend desselben Tages sind wir uns erneut über den Weg gelaufen, wiederum auf dem Hochplateau. Ich habe den Holzfäller aufgefordert, mir die Frau zu beschreiben und Blanka zweifelsfrei wiedererkannt. Eile tut not, hab ich mir gedacht und einen folgenschweren Fehler begangen. Ich habe, als das Dorf endlich vor mir gelegen ist, das Sporthotel links liegen lassen, habe den kürzesten Weg zum Gasthof eingeschlagen, alle Vorsicht ausser acht gelassen, habe mich dem Gasthof genähert und durch eines der Fenster in die Wirtsstube geschaut. Als man mich an den Armen gepackt hat, bin ich nicht sonderlich erschrocken gewesen. Da haben wir ja den zweiten, habe ich zwei Männer zueinander sagen hören, fragt sich nur, welchen von beiden. Die Männer haben mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, bist du der Liederschreiber oder der Detektiv, hat mich der eine der beiden gefragt und mir, als ich nicht geantwortet habe, einen schmerzhaften Schlag versetzt. Ich habe den Schlag äusserlich gleichmütig hingenommen und einmal  mehr Gelegenheit gehabt, mich über Ludwig zu wundern. Er hat sich offenbar bedeckt gehalten und nicht das Geringste verraten, er erstaunt mich diesbezüglich immer wieder, in Krisensituationen legt er oftmals grosse Schlauheit an den Tag. Die beiden Männer sind sich über seine Identität offenbar nicht im Klaren gewesen. Ich war fest entschlossen, das Verwirrspiel weiter zu spielen und habe eine undurchsichtige Miene aufgesetzt. Man weiss tatsächlich nicht, welcher von beiden er ist, haben die beiden zueinander gesagt und mich einer eingehenden Musterung unterzogen. Wir gehen fürs erste davon aus, dass er der Detektiv bist, haben sie schliesslich zueinander gesagt. Ich habe mich insgeheim über ihren sicheren Instinkt gewundert, mich aber mit keiner Regung verraten. Hör jetzt genau zu, haben die beiden gesagt, wir werden dich jetzt einem Herrn präsentieren, der dich für Ludwig halten wird. Von dir erwarten wir, dass du das Verwirrspiel mitspielst und tatkräftig  mithilfst. Ich habe eine unbewegte Miene zur Schau getragen, insgeheim aber Susanna an der Entwicklung der Dinge die Schuld gegeben. Wenn du dich fragst, ob deine Chefin Bescheid weiss, hat der grössere der beiden gesagt und mich mit seiner Taschenlampe geblendet, sie weiss tatsächlich Bescheid, im Grunde war sie es, die uns auf die Sprünge geholfen hat, deine Chefin ist eine begabte Frau, in der Tat. Ich habe diese Mitteilung äusserlich unbewegt hingenommen, aber begonnen, über einen möglichen Fluchtweg nachzudenken. Falls du an Flucht denkst, hat der grössere der beiden gesagt, vergiss es. Wir haben uns nicht wochenlang an eure Fersen geheftet, damit du uns so einfach wieder entwischt. Keine Chance, hat auch der kleinere der beiden gesagt, also habe ich den Gedanken fürs erste ad acta gelegt und mich in mein Schicksal gefügt. Auf die Fragen der beiden nicht oder nur einsilbig geantwortet und sie damit mehrmals ernsthaft gegen mich aufgebracht. Ich habe mehrere schmerzhafte Schläge einstecken müssen, die unter anderem meine noch immer empfindliche Nase getroffen haben. Der kleinere der beiden hat sein Gesicht ganz nahe an meines gebracht und mir in die Augen gestarrt, aber ich habe mich nicht geregt und seinem Blick standgehalten, bis er sich seufzend aufgerichtet hat. Er hat ein Foto von Ludwig aus seiner Jackentasche gezogen, es eingehend betrachtet und schliesslich ratlos den Kopf geschüttelt. Ich habe beschlossen, meine Taktik ein wenig zu ändern. Wenn ich vordergründig mit ihnen zusammenarbeite, kann das in der gegenwärtigen Situation bloss ein Vorteil sein, hab ich mir gedacht und mein Schweigen gebrochen. Ich bin der Detektiv, hab ich gesagt, nehmen Sie mein Ehrenwort unter Berufskollegen, was haben Sie mit Ludwig gemacht? Aber man hat mich keiner Antwort gewürdigt, mich an den Armen gepackt und in ein bereits wartendes Auto verfrachtet. Der Fahrer hat nicht gleich losfahren können, weil eine Schafherde uns die Strasse versperrt hat. Es hat gedämmert und in der Wirtsstube ist das Licht angegangen. Ich habe den Kopf gedreht und meine Augen angestrengt und Ludwig an seinem Fensterplatz sitzen sehen. Die beiden Männer sind meinem Blick gefolgt und haben genickt. Ja, du siehst schon richtig, haben sie gesagt, wir haben deinen Freund in die Obhut der Wirtin gegeben, später kommen wir zurück und holen ihn. Im Hintergrund der Gaststube habe ich die Wirtin ausmachen können, sie hat misstrauisch auf Ludwig geschaut und ich habe mich gefragt, ob sie mir tatsächlich in den Rücken gefallen ist. Ich habe dem Herrn neben mir einen fragenden Blick zugeworfen. Er hat genickt und seinen Freund aufgefordert, endlich weiterzufahren. Du siehst ganz richtig, hat er zu mir gesagt, wir haben die Wirtin umgedreht, in der Tat, was aber nicht weiter schwierig war. Ihre Mitarbeit ist unverzichtbar für uns, sie weiss, wie man euch behandelt und hat uns alles darüber gesagt. Du hast zahlreiche Fehler gemacht, hat der Mann am Steuer gesagt, jetzt mal unter Kollegen gesprochen, das weiss man doch, dass man sich möglichst bedeckt hält und sich keinesfalls seiner Quartiergeberin anvertraut. Wer seine Karten offen auf den Tisch legt, hat schon verspielt. Nicht, dass wir deine Leistung nicht zu schätzen wüssten, hat der neben mir gesagt, wir werden Ludwig eine Reihe von hochkarätigen Liedern abpressen, ohne deine Vorarbeit wäre das nicht möglich gewesen, wir erkennen das neidlos an. Aber das war nur die eine Seite deiner Aufgabe, über die andere hat dich deine Chefin, wohlweislich im unklaren gelassen, hat der Mann am Steuer gesagt. Wenn du überhaupt der Ermittler bist, hat er nach einer Weile gesagt und mir einen misstrauischen Blick zugeworfen. Unser Auftraggeber will Ludwig für sich allein, hat er gesagt, und endlich Ruhe vor seinen Konkurrenten. Deswegen werden wir dich einer Person präsentieren, die ihrerseits ein starkes Interesse an Ludwig hat und du wirst die Freundlichkeit haben, das Spiel mitzuspielen. Deine Chefin hat originelle Ideen, hat der eine am Lenkrad gesagt, alles was recht ist und sie hat die richtigen Leute bei der Hand. Als sie uns den Vorschlag unterbreitet hat, waren wir skeptisch. Wir haben nicht für möglich gehalten, dass jemand die eigene Haut zu Markte trägt, so wie du es getan hast. Falls du tatsächlich der Ermittler bist, hat er gesagt und mir einen prüfenden Blick zugeworfen. Das mit der Nase war schon ein Coup, hat der Mann hinter dem Steuer gesagt, dazu wäre keiner von uns bereit gewesen, alle Achtung. Und jetzt würden wir dich bitten, möglichst exakt Ludwigs Gehabe an den Tag zu legen, hat er gesagt, der Herr, der dich in Empfang nehmen wird,  kennt Ludwig ziemlich gut, hat ihn allerdings schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wir haben alles bestens vorbereitet, hat er gesagt, er wartet bereits auf dich und freut sich auf ein Wiedersehen. Ich habe die Achseln gezuckt und über Susannas falsches Spiel nachgedacht. Der Fahrer hat den Wagen viel zu schnell durch den Nachbarort gelenkt, ist auf den Gehsteig geraten und hat eine Frau niedergestossen. Als sie sich wieder aufgerappelt hat, habe ich die Sprechstundenhilfe wiedererkannt. Der Mann hat den Wagen aber beinahe sofort wieder unter Kontrolle gehabt und ist einfach weitergefahren. Ich habe mich umgedreht und durch das Heckfenster geschaut. Die Sprechstundenhilfe hat einen faustgrossen Stein nach uns geworfen und den Wagen nur knapp verfehlt. Der Fahrer hat die Strassenkehre viel zu schnell genommen und den Wagen abrupt abgestoppt. Ich habe einen Blick auf das Wächterhäuschen geworfen und nach den Hunden Ausschau gehalten. Du überkletterst den Zaun, wie gehabt, haben die beiden zu mir gesagt und im Häuschen findest du einen älteren Herrn, der dich für Ludwig halten wird. Los jetzt, haben sie gesagt, der Herr da drinnen kennt Ludwig gut, hat ihn allerdings, wie gesagt, schon länger nicht mehr gesehen, gib dir Mühe, es ist in deinem eigenen Interesse. Ich habe gehorsam aussteigen wollen, aber der neben mir hat mich zurückgehalten, meinen Hemdkragen zurechtgerückt, die Knöpfe meiner Jacke geschlossen und mir die Haare nach Ludwigs Manier gescheitelt. Los jetzt, hat er gesagt und mir einen aufmunternden Schlag versetzt. Ich bin also zögernd auf den Zaun zugegangen, habe ihn nach Ludwigs Manier überklettert und mich auf der anderen Seite zu Boden fallen lassen. Ich habe nach den Hunden Ausschau gehalten und bin ich mit Ludwigs ein wenig hüpfendem Schritt auf das Häuschen zugegangen. Als ich die Tür der Hütte geöffnet habe, haben die Männer das Auto gestartet. Ich war erstaunt über ihre Sorglosigkeit, sie halten ihre Mission bereits für beendet, hab ich mir gedacht, das ist keine wirklich professionelle Arbeit, sie müssten zumindest solange warten, bis ihr Auftraggeber ihnen signalisiert, dass ihre Dienste nicht mehr benötigt werden. Aber wahrscheinlich sind sie in Sorge um Ludwig, sie haben Angst, dass man ihnen Ludwig wieder abjagt, deswegen die Eile. Ich habe nach dem Notenheft in meiner Manteltasche getastet, die Lieder zumindest habe ich, hab ich mir gedacht, die wird mir keiner mehr nehmen. Dass die Fahrt der beiden Männer gleich hinter dem Dorf ein Ende gefunden hat, habe ich da noch nicht wissen können. Aber auf meinem Rückweg ins Hotel habe ich ihr Auto zertrümmert und ausgebrannt im Strassengraben liegen sehen und beim Einladen der Särge in den Leichenwagen zusehen können. Ich habe die Tür der Hütte aufgestossen und einen alten Mann am Tisch sitzen sehen. Der Alte hat einen erfreuten Gesichtsausdruck an den Tag gelegt und sich ein wenig aufgerichtet. Schön dich zu sehen, Ludwig, hat er gesagt, nur herein mit dir. Ich bin in der Tür stehengeblieben und habe die Arme vor der Brust verschränkt. Jetzt bist du jahrelang vor mir davongerannt und letztlich war doch alles vergeblich, hat der Alte gesagt und mich einer genauen Musterung unterzogen. Siehst ziemlich abgehalftert aus, hat er schliesslich kopfschüttelnd gesagt, und stehst auch nicht mehr so gut im Futter, stimmts? Dann ist er aufgestanden, hat meine Handgelenke betastet, hat sich dann schwerfällig gebückt und meine Fussknöchel untersucht. Ich habe versucht, mich seinen Händen zu entziehen und mich nach einem Fluchtweg umgesehen. Schliesslich hat sich der Alte wieder aufgerichtet und ist zu seinem Platz zurückgekehrt. Falsch ernährt und untrainiert, hat er gesagt, soviel steht fest, was soll ich jetzt noch mit dir anfangen. Dass du alles mir verdankst, weisst du aber schon noch, hat er nach einer Weile gesagt, habe dir etwa  nicht jeden Wunsch von den Augen abgelesen? Ich habe die Achseln gezuckt und auf meine Schuhspitzen geschaut. Einfach weglaufen, hat der Alte gesagt und den Kopf geschüttelt, einfach sang- und klanglos verschwinden, hast du denn gar kein schlechtes Gewissen? Ich habe die Lippen zusammengepresst und an ihm vorbei aus dem Fenster geschaut, so wie es Ludwig getan hätte. Dich irgendwelchen Leuten an den Hals zu werfen, hat er gesagt, und deinen alten Mentor und Förderer einfach links liegen zu lassen, was hast du dir nur dabei gedacht? Ich bin ohnehin allen weggelaufen, hab ich gesagt und das offenstehende Fenster an der Stirnseite des Raumes schärfer ins Auge gefasst. Erzähl mir, wie es dir ergangen ist, Ludwig, hat der Alte gesagt, aber ich habe den Kopf geschüttelt und mich dem Fenster genähert. Aber der Alte hat mich am Arm gepackt und mich in einen Sessel gezwungen. Schön hierbleiben, hat er gesagt, wenn du vorhast, zu fliehen, muss ich dir sagen, dass ich professionelle Leute angeheuert habe, die dich sehr bald wieder einfangen würden, also setz dich brav hierhin, wir beide brechen ohnehin bald auf. Nach Hause, hat er gesagt und mich erwartungsvoll angeschaut, dein Musikzimmer wartet schon auf dich, vor allem dein Klavier, freust du dich? Ich habe, wie Ludwig es sicher getan hätte, heftig den Kopf geschüttelt und die Entfernung zum Fenster eingeschätzt. Weil es dasselbe Fenster gewesen ist, durch das ich seinerzeit eingedrungen bin, um den Papierkorb zu durchsuchen, habe ich gewusst, dass es ganz niedrig liegt und man sich ohne weiteres hinausfallen lassen kann, ohne Schaden zu nehmen. Ich habe alle Muskeln angespannt, in der Schnelligkeit liegt meine einzige Chance, hab ich mir gedacht und aufspringen wollen, als der Alte erschrocken den Kopf gedreht hat. Was sind das für Hunde, hat er gefragt, als meine Leute mich hierhergebracht haben, waren nirgendwo Hunde. Tatsächlich ist wütendes Hundegebell zu hören gewesen, man hat Schritte und Fluchen gehört, dann haben zwei Männer die Tür aufgerissen und sich mit knapper Not in Sicherheit gebracht. Sie haben die Tür vor den nachdrängenden Hunden gerade noch zuschlagen können. Ich bin eilends in den Nebenraum gelaufen und habe durch einen Türspalt alles Folgende beobachten können. Das war knapp, haben die Männer zueinander gesagt, schwer geatmet und sich den Schweiss von der Stirn gewischt. Ich habe sie schärfer ins Auge gefasst und sogleich wiedererkannt. Der eine ist vor ein paar Tagen im Wirtshaushof herumgelungert, der andere hat sich auf Blankas Schlachtfest breit gemacht. Die beiden sind auf den Alten zugegangen und haben ihn links und rechts an den Armen gepackt. Bist du auch hinter dem Liederschreiber her, haben sie ihn gefragt und weil der Alte die Lippen zusammengepresst und geschwiegen hat, haben sie ihm mehrere Schläge versetzt. Ist er etwa gar hier, hat der vom Schlachtfest gefragt, aber der Alte hat heftig den Kopf geschüttelt. Hier ist niemand, hat er gesagt, niemand ausser mir. Aber, in der Tat, ich warte auf Ludwig, um ihn wieder mit nach Hause zu nehmen, denn ich habe die ältesten Rechte. Die beiden Männer haben sich durch einen Blick verständigt, was ich durch den Türspalt genau beobachtet habe, dann hat der eine der beiden, der vom Wirtshaushof, seine Hände um des Hals des Alten geschlossen und zugedrückt. Aus der Fibel für den Privatdetektiv und aus unseren praktischen Übungen kenne ich den Griff aufs genaueste. Ich weiss, dass er, richtig angewandt, alsbald zu Bewusstlosigkeit, nicht aber zum Tod führt. Tatsächlich haben die Beine des Alten schon nach kurzer Zeit unter ihm nachgegeben und er ist zu Boden gesunken. Wohin jetzt mit ihm, hat der vom Schlachtfest gesagt, tot ist er nicht, wenn wir ihn hier liegenlassen, kommt er in kurzer Zeit wieder zu sich, machen wir doch gleich Nägel mit Köpfen. Er hat sich aus dem Fenster gebeugt und ich habe gleich gewusst, dass ihm der hinter dem Häuschen fliessende Gebirgsbach ins Auge fallen wird. Der Bach führt Hochwasser, hat er zu seinem Komplizen gesagt, das ist ideal. Sieh nach, wo die Hunde sind, hat er gesagt und sein Komplize hat die Tür einen Spalt geöffnet und den Kopf hinausgestreckt. Sind nirgendwo zu sehen, hat er gesagt, die Luft ist rein, aber beeil dich. Ich ertränke ihn, hat der vom Schlachtfest gesagt, das ist das Sicherste, damit ist er ein für allemal aus dem Verkehr gezogen, ich habe es satt, überall auf Leute zu treffen, die so wie wir hinter dem Liederschreiber her sind. Er hat den Alten unter den Achseln gepackt und ihn auf das Fensterbrett gehievt. Dann hat er ihn hinausgeschoben, so dass der Alte kopfüber auf den Kiesweg, der rund um die Hütte führt, gestürzt ist. Der Mann vom Schlachtfest hat den bewusstlosen Alten quer über die Rasenfläche zum Wasser geschleppt, hat sein Opfer ins Wasser gleiten lassen und den Kopf des Alten eine ganze Weile untergetaucht. Ich habe es mit der Angst zu tun bekommen und mich im Kleiderschrank versteckt. Ich habe mich gänzlich still verhalten und lange in meinem Versteck ausgeharrt. Erst als ich überzeugt war, dass mir keine Gefahr mehr droht, bin ich wieder aus dem Schrank geklettert,  habe einen letzten Blick auf den schnell fliessenden Gebirgsbach geworfen, nach den Hunden Ausschau gehalten, habe eilends den Zaun überklettert und mich auf den Weg zurück ins Hotel gemacht.

 

 

18
Rabenschwarz

 

 

Was mir auf meinem Rückweg als erstes begegnet ist, war ein ausgebranntes und schwarz verkohltes Autowrack. Ich bin stehengeblieben, habe beim Einladen der Unfallopfer zugesehen und unter den Schaulustigen die Arzthelferin wiederentdeckt. Sie hat mich gleich wiedererkannt und ist einem Gespräch nicht abgeneigt gewesen. Geschieht denen schon recht, hat sie gesagt, die haben mich zu Boden gestossen und es nicht der Mühe wert gefunden, stehenzubleiben und zu fragen, ob mir was passiert ist. Ich weiss, hab ich gesagt, aber wie Sie sehen, ist die Rache unverzüglich gefolgt, auf dem Fuss sozusagen. In der Folge hat sich die Arzthelferin an meine Fersen geheftet und mir die indiskretesten Fragen über meine Mission, über Ludwig und die Schaustellertruppe gestellt. Sie hat sich nicht mehr abschütteln lassen und ich habe sie schliesslich aufgefordert, mich zu begleiten. Ich brauche ohnehin Verstärkung, hab ich gesagt, ich habe vor, eine kleine Armee zusammenzustellen, es geht darum, Ludwig aus unwürdigen Verhältnissen zu befreien, wenn Sie mir dabei helfen wollen, sind Sie herzlich willkommen. Zu Ehre der Arzthelferin muss gesagt sein, dass sie nicht lange überlegt hat und mir unverzüglich gefolgt ist. Ihre Anwesenheit hat sich schon auf dem Rückweg ins Hotel als dienlich erwiesen, nehmen wir doch die Abkürzung, hat sie gesagt, wir müssen nicht die Landstrasse entlanggehen, wenn wir querfeldein gehen, können wir mächtig abkürzen und tatsächlich haben wir das Hotel in Rekordzeit erreicht. Ich muss meine Schaustellerkollegen von der neuen Wendung der Dinge in Kenntnis setzen und mich ihrer Mithilfe versichern, hab ich zur Arzthelferin gesagt und sie in die Hotelhalle geführt. Haben Sie bitte Geduld, nehmen Sie solange Platz. Im Garderobenraum bin ich auf die Dompteuse gestossen, habe ihr von der neuesten Entwicklung der Dinge berichtet und mit ihr Massnahmen zur Befreiung Ludwigs erwogen. Sie hat bedenklich den Kopf geschüttelt und mit ihrer Skepsis nicht hinter dem Berg gehalten. Ich sehe zahlreiche Komplikationen voraus, hat sie gesagt, dann aber trotzdem den grossen Gong geschlagen, den wir nur in wirklich dringenden Fällen benutzen. Wenn der grosse Gong geschlagen wird, wissen alle Mitglieder des Ensembles, dass sie sich unverzüglich im Pausenraum einzufinden haben. Tatsächlich waren im Handumdrehen alle vollzählig versammelt und haben mich mit Fragen bestürmt. Ich bin auf einen Sessel gestiegen, habe die jüngstvergangenen Ereignisse kurz wiederholt und dann an die Solidarität des Ensembles appelliert. Ludwig wird im Gasthof festgehalten, hab ich gerufen, man wird versuchen,  ihm mit allen möglichen Mitteln ein Lied abzupressen, dabei habe ich unwillkürlich nach meiner Brusttasche getastet und mich vergewissert, dass das Notenheft nach wie vor an seinem Platz ist, keiner von uns würde unter Zwang seine Kunststücke zeigen, hab ich gerufen, das darf nicht hingenommen werden, die Freiheit der Kunst steht auf dem Spiel. Alle versehen sich mit Requisiten, soweit sie zu Angriff und Verteidigung geeignet sind, hat die Dompteuse gesagt, ziehen ihre farbenprächtigsten Kostüme an und finden sich vor dem Haupttor ein. Natürlich hat es mehrere Einwände gegeben, ich trage mein Kostüm tagsüber nicht gern, hat der Zauberkünstler gesagt, nichts könnte der Illusion, die ich abends auf der Bühne zu erzeugen versuche, abträglicher sein, als wenn ich tagsüber mein Kostüm trage. Auch der Jongleur hat nicht zulassen wollen, dass die Keulen, mit denen er seine Nummer bestreitet, als Waffen benutzt werden, aber die Vorstellungen der Dompteuse haben ihn schliesslich zum Einlenken bewogen. Als alle bereit waren, haben wir uns in der Hoteleinfahrt formiert und ich habe mich an die Spitze des Zuges gesetzt, die Dompteuse und der Direktor haben sich dicht hinter mir gehalten, der Spassmacher, sein Geselle, Samson, die Arzthelferin und der Rest des Ensembles haben die stattliche Nachhut gebildet. Unser Zug hat grosses Aufsehen erregt, die Leute sind aus ihren Häusern gelaufen und haben mit den Fingern auf uns gezeigt, auch der eine oder andere Stein ist geflogen, aber keiner von uns hat sich davon beirren lassen. Als wir vor dem Wirtshaus angelangt sind, haben wir die Tür verschlossen gefunden. Das Schild Ruhetag hat einen Augenblick für Irritation gesorgt, aber dann habe ich mich sogleich besonnen und den Kopf geschüttelt. Der Ruhetag war doch immer der Dienstag, hab ich gesagt, dieses Schild ist nur ein durchsichtiges Manöver der Wirtin. Wir haben uns ein wenig zurückgezogen, einen grossen Halbkreis gebildet und uns über unsere nächsten Schritte beraten. Dann habe ich mich dem Wirtshaus nochmals genähert und durch eines der Fenster in die Gaststube geschaut. Dort ist auf den ersten Blick alles beim alten gewesen, die Wirtin hat sich am Tresen zu schaffen gemacht, durch die offenstehende Küchentür hat man die Mägde arbeiten sehen und Ludwig ist an seinem Fenstertisch gesessen. In den Händen hat er einen Bleistift gehabt und ein altes, nun schon reichlich zerknittertes Notenheft ist vor ihm gelegen. Ich habe keine Spuren von Misshandlungen ab ihm entdecken können und die Dompteuse zu mir gewunken. Sie ihn dir an, hab ich gesagt, er ist zumindest äusserlich unversehrt. Aber er sieht schwach und mutlos aus, hat die Dompteuse gesagt und ich habe ihr rechtgeben müssen. Wir haben uns erneut zurückgezogen und beraten, was als nächstes zu tun ist. Der Direktor hat sich naheliegenderweise angeboten, mit der Wirtin zu reden. Sie ist normalerweise einem vernünftigen Wort durchaus zugänglich, hat er gesagt, vielleicht gelingt es mir, sie zum Einlenken zu bewegen. Er hat mich aufgefordert, ihn zu begleiten, aber ich habe abgelehnt. Ich fühle mich hintergangen, hab ich gesagt, sie hat gemeinsame Sache mit unseren Verfolgern gemacht und Ludwig und mich auf das Schmählichste verraten, ich bin nicht gut zu sprechen auf sie, wenn sie Ludwig nicht freiwillig herausgibt, drohen Sie Ihr am besten mit einem Angriff unsererseits. Der Direktor hat an der Eingangstür gerüttelt, nehmen Sie das Hoftor, habe ich ihm zugerufen, das steht normalerweise immer offen. Tatsächlich ist der Direktor durch das Hoftor ins Gausthausinnere gelangt und ich habe durch eines der Gaststubenfenster seine Überredungsversuche beobachten können. Aber die Wirtin hat immer nur den Kopf geschüttelt hat und den Direktor schliesslich aus dem Haus gewiesen. Er hat sich wieder zu uns gesellt und resigniert den Kopf hängen lassen. Da ist nichts zu machen, hat er gesagt, ich erkenne meine alte Freundin gar nicht mehr wieder, man hat sie vollständig umgedreht, ich habe sie an die alten Zeiten erinnert und an ihr Loyalitätsgefühl appelliert, bin aber erfolglos geblieben. Man hat Ludwig in ihre Obhut gegeben, falls ihm etwas zustösst oder falls ihm die Flucht gelingt, wird sie zur Rechenschaft gezogen, hat er gesagt und seine Ratlosigkeit offen gezeigt. Ich habe vorgeschlagen, dass wir uns ein wenig zurückziehen, vielleicht bis an den Rand des Rübenfelds, hab ich gesagt, damit niemand sich bedroht fühlt. Wir haben uns also ein wenig ausserhalb des Dorfes gelagert und über unsere nächsten Schritte beraten. Die Dompteuse hat einen handstreichartigen Überfall vorgeschlagen, wir müssen so rasch handeln, dass es zu einer Gegenwehr gar nicht erst kommen kann, hat sie gesagt, aber ich habe den Kopf geschüttelt. Mein Plan ist ein anderer, habe ich gesagt, da ich Ludwig ohnehin zum Verwechseln ähnlich sehe, können wir raffinierter vorgehen. Ich werde Ludwigs Platz einnehmen und während die Wirtin glaubt, dass sie Ludwig festhält, hält sie in Wirklichkeit mich fest, einer von euch müsste sich allerdings verpflichten, Ludwig möglichst unversehrt bei meinem Auftraggeber abzuliefern, zusammen mit diesem Heft, hab ich gesagt, und das Notenheft aus meiner Brusttasche gezogen. Der Spassmacher und sein Geselle haben sich spontan dazu bereit erklärt, in der Folge haben wir den Ablauf von Ludwigs Befreiung minutiös geplant und sind ruhig auf unserem Platz am Rand des Rübenfelds geblieben und haben die Dunkelheit abgewartet. Erst als es vollkommen dunkel war, haben wir unser kleines Verwirrspiel begonnen. Samson hat sich in den Hof geschlichen, hat dort Krach geschlagen und die Wirtin aus dem Haus gelockt, währenddessen hat sich der Jongleur an den Sicherungskästen zu schaffen gemacht und für einen totalen Stromausfall gesorgt. Die vollkommene Dunkelheit haben wir dazu benutzt, Ludwig aus dem Haus zu holen. Die Fähigkeit der Dompteuse, sich auch noch bei tiefster Dunkelheit sicher bewegen zu können, ist dabei von unschätzbarem Wert gewesen, sie hat mich mit der grössten Sicherheit bis vor Ludwigs Tisch geführt, hier ist er, hat sie geflüstert, hier an diesem Tisch sitzt er, sprich mit ihm. Ich bins Ludwig, habe ich also gesagt, erschrick nicht, wir sind hier, um dich zu befreien. Ludwig ist uns willig gefolgt, wir haben ihn eilends aus dem Haus und hinter die Scheune geführt, dann habe ich mit ihm die Kleider getauscht und ihn dem Spassmacher und seinem Gesellen anvertraut. Als ihn der Spassmacher und sein Geselle links und rechts am Arm genommen haben, hat er sich wieder freimachen wollen und heftig um sich geschlagen. Wohin bringt ihr mich, hat er gefragt, es hat gar keinen Zweck, wenn ihr mich irgendwohin bringt, ich laufe ja doch weg. Es ist an der Zeit, dass du zu deinem  Gönner zurückkehrst, Ludwig, hab ich gesagt und für einen Augenblick alle Rücksichtnahme beiseite gelassen, was glaubst du, warum ich mir solche Mühe mit dir gegeben habe? Zu welchem Gönner, hat Ludwig gesagt und vergeblich versucht, sich aus dem Griff des Spassmachers zu befreien, ich habe mehrere Gönner gehabt, aber ich will zu keinem von ihnen zurück. Ich habe dem Spassmacher bedeutet, dass es Zeit ist, sich auf den Weg zu machen. Machs gut Ludwig, hab ich gesagt, hier hast du dein Notenheft zurück. Ich habe das Notenheft aus meiner Manteltasche gezogen und dem Gesellen des Spassmachers einen Zettel mit der Adresse meines Auftraggebers ausgehändigt. Den übrigen Ensemblemitgliedern habe ich den Rückzug befohlen, seht zu, dass ihr möglichst ungesehen ins Hotel zurückkommt, ich werde für eine Weile Ludwigs Platz einnehmen. Das ist das Sicherste. Ich habe mich, noch immer im Schutz der Dunkelheit, ins Haus geschlichen und mich auf Ludwigs Platz gesetzt. Als das Licht wieder angegangen ist und die Wirtin die Gaststube betreten hat, habe ich ihr ganz gelassen entgegengeschaut. Sie hat erleichtert aufgeatmet, als sie mich auf Ludwigs Platz sitzen hat sehen, dann aber nach dem Hausknecht gerufen und sich flüsternd mit ihm beraten. Er hat anfangs den Kopf geschüttelt und Einwendungen gemacht, dann aber achselzuckend die Wirtsstube verlassen. Nach kurzer Zeit ist er mit einer Eisenkette wiedergekommen. An einem Ende der Kette war eine massive Kugel befestigt, das andere Ende hat er mir um Fuss gelegt. Ich habe protestiert, aber der Hausknecht hat ein Schloss angebracht, es sorgfältig versperrt und den Schlüssel in seine Jackentasche gesteckt. Das hat meinen Fluchtplan natürlich zunichte gemacht und ich habe micheine ganze Weile in Geduld üben müssen. Anfangs war ich nicht übermässig beunruhigt, meine Freunde von der Schaustellertruppe werden mich über kurz oder lang kommen und mich befreien, hab ich mir gedacht und mich um Gelassenheit bemüht. Nach einigen Tagen habe ich begonnen, nachzudenken. Sie wissen nicht, dass ich festgehalten werde, hab ich mir gedacht, sie glauben, dass ich schon längst geflohen bin und verschwenden keinen Gedanken an mich. Ich habe versucht, strategisch vorzugehen und meinen Kontakt zur Wirtin zu verbessern, aber da sie mich für Ludwig gehalten hat, war sie unwirsch und kurz angebunden. Hoffentlich holt man dich bald, hat sie mehr als einmal zu mir gesagt, die Verantwortung für dich ist erdrückend, ich hätte mich erst gar nicht darauf einlassen sollen. Einige Male war ich nahe daran, sie über ihren Irrtum in bezug auf mich aufzuklären. Endlich nach etwa einer Woche, ist die Arzthelferin zufällig aufgetaucht und hat die Dinge wieder in Gang gebracht. Sie war erstaunt, mich noch immer im Wirtshaus vorzufinden und empört, dass man mich schlecht behandelt. Sie hat erschrockene Blicke auf die Kugel und die Kette an meinem Bein geworfen und die Wirtin zur Rede gestellt. Was soll das, hat sie gefragt, das ist menschenunwürdig, wieso halten Sie ihn wie einen Galeerensklaven, lassen Sie ihn augenblicklich frei. Sie hat die Kette inspiziert, und festgestellt, dass sich einzelne Glieder bereits auf das schmerzhafteste in meinen Knöchel gegraben haben. Geben Sie mir augenblicklich den Schlüssel, hat sie zur Wirtin gesagt. Die aber hat bloss den Kopf geschüttelt und die Wirtsstube verlassen. Ich habe die Arzthelferin gebeten, meine Freunde von der Schaustellertruppe über meine prekäre Lage zu informieren. Sie sollen mich hier herausholen, je früher, desto besser, hab ich gesagt, die Dinge laufen nicht so, wie sie sollten. Und tatsächlich ist auf die Arzthelferin Verlass gewesen, denn noch am selben Abend sind meine Freunde vollzählig angerückt und überfallsartig in das Haus eingedrungen. Samson hat den Jongleur aufgefordert, mit Hand anzulegen und zu zweit war es ihnen ein leichtes, mich mitsamt der Kette aus dem Haus zu tragen. Auf dem Kirchenvorplatz haben sie mich abgesetzt und einen Karren organisiert, um mich besser transportieren zu können. Den Weg ins Hotel haben wir in Rekordzeit zurückgelegt, aber als man mich in die Halle getragen und in einem der Polstersessel installiert hat, hat der Hoteldirektor Einspruch erhoben. Er hat uns mit überkippender Stimme beschimpft und uns aufgefordert, das Hotel augenblicklich zu verlassen. Hinaus mit euch, hat er gesagt, eure bunten Abende sind nichts weiter als eine Farce und eure Darbietungen einfach lächerlich, auf die restlichen Vorstellungen verzichte ich gerne, wenn ich euch nur rasch loswerde. Mässigen Sie sich, hat unser Direktor gesagt, sich damit aber nur neuerliche Beschimpfungen eingehandelt. Schliesslich hat die Truppe angewiesen, ihre Zimmer unverzüglich zu räumen, noch heute abend ziehen wir weiter, hat er gesagt, wir drängen uns nirgendwo auf, dieses Engagement war ohnehin das reine Verlustgeschäft. Während die Kollegen ihre Sachen gepackt haben, hat Samson versucht, mich von meiner Kette zu befreien. Er hat meinen geschwollenen Knöchel einer genauen Musterung unterzogen und vorgeschlagen, den Schmid zu holen. Den brauchen wir nicht, hab ich gesagt, es gibt einen Schlüssel, der Hausknecht hat ihn in Verwahrung. Samson hat sich als wahrer Freund erwiesen, ist, nochmals ins Wirtshaus gegangen und nach einer Weile mit dem Hausknecht im Schlepptau wiedergekommen. Er behauptet steif und fest, dass er den Schlüssel weggeworfen hat, hat Samson gesagt, deswegen habe ich ihn hierhergebracht, womöglich muss man ihn hochnotpeinlich befragen und hochnotpeinliche Befragungen sind doch Sache der Dompteuse. Der Hausknecht hat lautstark protestiert, aber die Dompteuse hat ihn geheissen, ruhig zu sein. Sie hat seine Taschen durchsucht und aufgefordert, den Schlüssel freiwillig herauszugeben. Aber der Hausknecht hat sich als äusserst störrisch erwiesen, da werden in der Tat um eine hochnotpeinliche Befragung nicht herumkommen, hat die Dompteuse nach einer Weile gesagt und alle Vorbereitungen getroffen. In der Folge haben die Schmerzensschreie des Hausknechts die Hotelgäste auf den Plan gerufen. Sie haben die hochnotpeinliche Befragung des Hausknechts für einen ausserplanmässigen bunten Abend gehalten und grosses Interesse gezeigt. Mehrmals hat es Zwischenapplaus gegeben. Der Jongleur und ich haben dieses Phänomen leise erörtert und nach Erklärungen gesucht. Nicht die Hälfte der Leute war bei unseren regulären, bunten Abenden, hab ich gesagt, der Jongleur hat mir zugestimmt und seine Augen nicht von der Dompteuse gewandt. Aber alle ihre Bemühungen sind letztlich vergeblich gewesen, der Hausknecht hat lauthals beteuert, dass er den Schlüssel weggeworfen hat und die Dompteuse hat die Befragung schliesslich abbrechen müssen. Als sich die Hotelgäste zerstreut haben und wir über unsere nächsten Schritte beraten wollten, ist der Hoteldirektor mit einer Schrotflinte erschienen. Raus mit euch, hat er gesagt und die Flinte auf unseren Direktor gerichtet. Also hat Samson mich auf meinen Karren gehoben und wir haben den geordneten Rückzug angetreten. Wir sind übereingekommen, uns unverzüglich in die nächste Ortschaft aufzumachen, dort einen, oder, je nach Interesse, auch zwei bunte Abende zu gestalten und dann weiterzuziehen. Den Hausknecht haben wir als eine Art Geisel mitgenommen, ihn aber nach ein paar Tagen laufen lassen, weil er gänzlich nutzlos war. Meine Freunde von der Schaustellertruppe haben alles darangesetzt, mich von meiner Kette zu befreien, sind aber erfolglos geblieben. Ich bin eine grosse Belastung für die gesamte Truppe gewesen, was sie mich aber kaum haben spüren lassen. Abwechselnd haben sie meinen Karren gezogen und mich während der Vorstellungen seitwärts an der Bühne abgestellt. Wenn ich mich schlafend gestellt habe, haben sie die verschiedensten Überlegungen in bezug auf mich und meine fatale Lage angestellt und sind letztlich immer zum selben Ergebnis gekommen. Allerdings hat  keiner von ihnen den Mut gehabt, mit mir diesbezüglich ein klärendes Gespräch zu führen. Also habe ich eines Tages das Thema selbst angeschnitten. Ich bin doch nur ein Klotz am Bein für euch alle, hab ich gesagt, ihr müsst mich von Ort zu Ort mitschleppen und habt alle erdenkliche Mühe mit mir, das muss früher oder später ein Ende haben. Die Dompteuse, der Direktor und auch der Jongleur haben beteuert, dass ich ihnen nicht die geringste Mühe mache, aber ich habe sie gebeten, mir zuzuhören. Dann habe ich ihnen einen gangbaren Weg zur Lösung des Problems vorgeschlagen. Da schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe, hab ich gesagt, das nützt der Truppe und befreit mich von der Kette, ihr solltet meinem Vorschlag nähertreten. Die Dompteuse, der Direktor und auch der Jongleur haben mit allen Anzeichen des Entsetzens den Kopf geschüttelt und versucht, mir meine  Idee auszureden. Schlag dir das aus dem Kopf, haben sie gesagt, dergleichen kommt überhaupt nicht in Frage, wofür hältst du uns, für Schlächter oder was? Aber ich bin wieder und wieder auf meinen Einfall zurückgekommen, ich selbst möchte es doch so, hab ich gesagt und ich gehe sogar noch weiter, ich hätte gerne, dass das Publikum einbezogen wird, dass die Amputation sozusagen öffentlich durchgeführt wird, in früheren Zeiten ist das Publikum von dergleichen in Scharen angelockt worden, Amputationen von Gliedmassen waren beliebte Volksbelustigungen, warum sollte das heute anders sein. Erinnert euch an die hochnotpeinliche Befragung am Hausknecht in der Hotelhalle, da haben wir soviele Zuschauer gehabt wie schon lange nicht mehr. Da hat er recht, haben die Dompteuse und der Direktor zueinander gesagt und alle Für und Wider erwogen. Wenn Béla sich wirklich dafür hergeben möchte, könnte uns das sanieren, haben sie zueinander gesagt, dann könnten wir endlich an die Anschaffung von neuen Kostümen und Requisiten denken. Man muss es nur richtig anfangen, hat der Direktor gesagt und bereits alle Eventualitäten bedacht, man muss marktschreierische Plakate drucken lassen, Flugzettel austeilen, einen grossen Saal oder ein Fussballfeld anmieten und für einen reibungslosen Ablauf sorgen. Alle Ensemblemitglieder haben mit mir in der Folge mehrere, sondierende Gespräche geführt und mich immer gleich entschlossen gefunden. Auf keinen Fall möchten wir dich zu irgendetwas nötigen, haben sie mehrmals zu  mir gesagt, aber ich bin in meinem Entschluss nicht mehr wankend geworden. Also ist der Direktor an die Vorbereitungen gegangen, hat alles so gut wie möglich vorausbedacht und für diesen Abend den grössten Veranstaltungssaal der Gegend gemietet. Niemals hätten wir mit unserem normalen Programm solch einen Saal füllen können, aber der bewusste Abend hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt und eine Reihe von Besuchern hat vor dem Eingang vergeblich um Einlass gebettelt. Der Direktor hat uns ein- über das andere Mal versichert, dass dies der glänzendste Abend seiner gesamten Laufbahn sei und hat die tatsächlich erstaunlich hohen Einnahmen immer wieder nachgezählt. Ich war naturgemäss ein wenig in mich gekehrt, aber die Dompteuse hat mir Wodka zu trinken gegeben und beruhigend auf mich eingeredet. Als der Geselle des Spassmachers gekommen ist, um mich auf die Bühne zu führen, habe ich, wie ich glaube, einen gefassten Eindruck gemacht und mich mit Vertrauen ins Samsons Hände gegeben. Samson ist seiner Aufgabe mit Eifer und ausreichender Sachkenntnis nachgekommen, hinterher haben alle zugesehen, dass es mir an nichts fehlt und reihum die nötigen Pflegedienste übernommen. Den abgetrennten Fuss haben wir präparieren lassen. Die Truppe führt ihn mitsamt der Kette und der Kugel heute noch mit sich. Falls sich jemand dafür interessiert: eine Besichtigung ist jederzeit möglich. Freiwillige Spenden sind sehr willkommen. Die Truppe hält sich nach wie vor im Osten des Landes auf und bespielt vor allem die kleineren Ortschaften. Was meine jetzige Lage betrifft: Ich werde bald gänzlich wiederhergestellt sein. Meine Freunde von der Schaustellertruppe haben mich, sobald ich wieder transportfähig war, zu Susanna gebracht. Susanna hat es an Fürsorge nicht fehlen lassen. Dass unser Verhältnis nachhaltig gestört ist, hat mehrere Gründe. Sie hat mich hierher in die Klinik gebracht und der Chirurg hat mich von der lächerlichen Stupsnase befreit. Er hat versucht, mein früheres Aussehen zu rekonstruieren. Hundertprozentig geglückt ist es nicht, aber man muss zufrieden sein, sagt er. Immerhin hält Susanna, was die Nase betrifft, Wort und will alles bezahlen. Im Augenblick lerne ich alles über Beinprothesen und die richtige Pflege des Beinstumpfs. Susanna besucht mich regelmässig, ist aber wenig kooperativ, was meine Wünsche betrifft. Das kann doch nicht so schwer für dich sein, sage ich immer wieder zu ihr, der alte Herr bewohnt ein Haus am nördlichen Stadtrand und fährt gern mit der Bahn, gewiss lässt er sich mit ein wenig Mühe ohne weiteres finden. Ich möchte ihm endlich seine Briefe zurückgeben, mir liegt viel daran, dass er sie wiederbekommt, er soll mich nicht für einen Dieb halten. Aber Susanna hat ganz andere Dinge im Kopf, in letzter Zeit ist sie geistesabwesend und in sich gekehrt. Sie bringt die Sprache meist auf meine Zukunft und meine künftige Laufbahn. Aber ich halte mich diesbezüglich bedeckt und antworte ausweichend. Ich weiss noch nicht, ob ich überhaupt jemals wieder einen Fall übernehme, sage ich, wenn Susanna darauf zu sprechen kommt und blättere angelegentlich in meinen Kunstbänden. Ausserdem muss ich mich doch erst an meine Prothese gewöhnen, sage ich, das kann dauern. Susanna hat es nicht gern, wenn ich auf meinen verlorenen Fuss zu sprechen komme und bedeutet mir dann jedesmal, dass es keinen Sinn hat, über vergossene Milch zu weinen. Ich habe da eine Sache im Auge, für die du der absolut richtige Mann wärest, sagt sie, dass du im Augenblick ziemlich abgehalftert bist, wäre in diesem Fall kein Nachteil, eher ein Vorteil. Neulich habe ich ihr zu verstehen gegeben, dass ich auch andere Angebote habe, aber Susanna lässt sich nicht so ohne weiteres bluffen und hat mir einen belustigten Blick zugeworfen. Der Chirurg ist scharf auf eine deiner Nieren und ein Stück deiner Leber, hat sie gesagt, wenn du das ein akzeptables Angebot nennst, ist dir wirklich nicht mehr zu helfen. Ich habe den Kopf geschüttelt und die Sache richtiggestellt. Du musst auf den Chirurgen nicht eifersüchtig sein, hab ich gesagt, es ist nur so, dass ich seit jeher jedermann gestatte, sich an mir zu bedienen, ich trage meine Haut mit der grössten Selbstverständlichkeit zu Markte, erst habe ich sie jahrelang auf der Bühne zu Markte getragen und dann habe ich sie in deiner Detektei zu Markte getragen und jetzt möchte der Chirurg zugreifen, das ist völlig legitim, ausserdem bezahlt er mich gut. Besser als du mich bezahlst, habe ich letzthin gesagt und Susanna damit endgültig in die Schranken gewiesen. Seither hat sie sich nicht mehr blicken lassen, es scheint, dass ich sie ernsthaft gekränkt habe. Gestern ist mir zu Ohren gekommen, dass es einen Auftritt zwischen Susanna und dem Chirurgen gegeben haben soll. Heute hat der Chirurg das sonderbarste Verhalten an den Tag gelegt und ist zu gänzlich ungewohnter Stunde, knapp vor Tagesanbruch, in meinem Zimmer erschienen. Ich bin erschreckt aufgewacht, habe aber trotzdem die Form gewahrt. Was verschafft mir die Ehre, hab ich gefragt, bitte nehmen Sie Platz, worum geht es, doch wohl nicht um meine Niere? Vergessen Sies, hat der Chirurg gesagt und eine abwehrende Handbewegung gemacht, das steht im Moment überhaupt nicht zur Debatte, aber wir platzen aus allen Nähten, Sie müssen Ihr Zimmer ab sofort mit einem Leidensgenossen teilen, er kommt wie Sie aus Susannas Stall, war eine Weile sogar ihr bestes Pferd im Stall, ist aber jetzt ziemlich abgehalftert, weit mehr noch als Sie, hat er gesagt und gelacht. Dann hat er sich nach meinem Beinstumpf erkundigt, hat alles bestens verheilt gefunden, meine Nase betastet, den Nasenrücken leidlich stabil gefunden und mein Zimmer wieder verlassen. Bald darauf hat man ein Spitalsbett mit einem jungen Mann hereingeschoben und der Pfleger hat mein Bett ein wenig zur Seite gerückt, um Platz zu schaffen. Sobald er das Zimmer verlassen hat, habe ich mich aufgerichtet und meinen neuen Zimmergenossen interessiert gemustert. Ich habe ihn blass und in sich gekehrt gefunden, was fehlt Ihnen denn, hab ich gefragt und der junge Mann hat sein überlanges Spitalshemd ein wenig zurückgeschoben und mich die grossen schwärenden Wunden an seinen Handgelenken und Fussknöcheln sehen lassen. Um Gottes Willen, hab ich gesagt, hat man sie etwa auch in Ketten gelegt, so wie mich? Mir hat man den Fuss mitsamt der Kette abtrennen müssen, hab ich gesagt ihm meinen Beinstumpf gezeigt, da war nichts mehr zu machen. Der junge Mann hat meinen Beinstumpf mit Interesse betrachtet, mir ist aufgefallen, dass er jemandem ähnlich sieht, über den ich nicht spreche. Keine Ketten, hat er gesagt, aber man hat es mit meinem Training übertrieben, die Springreiterei ist ein hartes Geschäft, eine Weile ist ja alles gut gegangen, ich habe jede Hürde genommen und bin höher und weiter gesprungen als alle anderen, aber dann hat es einen Leistungsabfall gegeben und man hat den Trick angewandt. Ich habe ihn fragend angeschaut, aber er hat sein Spitalshemd zurechtgezogen, sein Gesicht zur Wand gekehrt und nichts mehr gesagt. Welchen Trick, hab ich nach einer Weile gefragt, erzählen Sie mehr davon, ich kenne mich nicht so aus in der Springreiterei. Terpentin, hat der junge Mann gesagt und sich wieder zu mir gedreht, bestreicht man Handgelenke und Fussknöchel mit Terpentin,  führt das zu den schmerzhaftesten Wunden, die man sich denken kann. Aus Angst, mit den lädierten Gelenken beim Springen an eine Hürde zu stossen, springt man höher, als man es eigentlich kann. Aber das geht doch nicht, hab ich gesagt, die Wunden sieht doch jedermann, wie hilft man sich da zum Beispiel bei Turnieren? Der junge Mann hat die Achseln gezuckt und eine resignierte Handbewegung gemacht. Man weiss sich zu helfen, hat er gesagt, vor den grossen Turnieren klebt man einfach ein Klebeband in Hautfarbe über die Wunden. Eine raffinierte Methode, hab ich gesagt und anerkennend genickt, stammt sicher auch von Susanna. Der junge Mann hat die Achseln gezuckt und sein Gesicht wieder gegen die Wand gekehrt. Wir haben geschwiegen, solange, bis ich das Gespräch wieder aufgenommen habe. Sie kommen also auch aus Susannas Stall, hab ich gesagt, investiert sie noch in Sie oder lässt sie Sie fallen? Sie lässt mich fallen, hat der junge Mann gesagt und sich wieder zu mir gewandt, zwar hat sie davon geredet, dass mir eine Art Gnadenbrot zusteht, aber über kurz oder lang lässt sie mich fallen, ich bin ganz sicher. Er hat seine Bettdecke höhergezogen, bis unters Kinn und die Augen geschlossen. Schlafen Sie nicht, hab ich gesagt, gleich kommen die Ärzte, man wird Sie nach ihrem Befinden fragen und Ihnen die nächsten Behandlungsschritte erklären, Sie sollten jetzt nicht einschlafen. Also hat der junge Mann die Augen wieder geöffnet und mir einen prüfenden Blick zugeworfen. Sie sehen aber auch ziemlich abgehalftert aus, hat er gefragt, kommen Sie etwa auch aus der Springreiterei?. Dann müssten wir uns eigentlich kennen, hat er gesagt und sich ein wenig aufgerichtet. Ich habe den Kopf geschüttelt, habe mich aufgerichtet, meine Beine aus dem Bett geschwungen und das Anlegen der Prothese geübt. Dabei habe ich den jungen Mann ein wenig über Susannas Geschäftsverflechtungen aufgeklärt.  Susannas Erfolg beruht darauf, dass sie mehrere Standbeine hat, hab ich gesagt und die Lederbänder der Prothese an meinem Beinstumpf befestigt, sie mischt überall mit und hat ihre Finger in den verschiedensten Branchen. Sie haben also mit der Springreiterei gar nichts zu tun, hat der junge Mann gesagt und seine Decke zurechtgezogen, interessant. Aber welche Branche war dann Ihre, hat er gefragt, in welcher Richtung sind Sie tätig gewesen? Doch in sportlicher? Oder eher in künstlerischer? In detektivischer, hab ich gesagt, ich bin im Auftrag Susannas komplizierten Fällen nachgegangen und habe sie gelöst. Grossteils, hab ich nach einer Pause hinzugefügt, ich habe sie grossteils gelöst. Weil mein Zimmergenosse echtes Interesse an den Tag gelegt und mehr darüber hat wissen wollen, habe ich ihm versprochen, ihm den Bericht über meine beiden letzten Fälle zu lesen zu geben. Dann habe ich ihn dann aufgefordert, mir noch mehr von seinem Metier zu erzählen. Die Springreiterei interessiert mich, hab ich gesagt, ich bewege mich da auf gänzlich fremden Terrain, erzählen Sie mir mehr davon. Zuguterletzt hat man sich schon streng verbotener Methoden bedient, um meine Leistung zu steigern, hat der junge Mann gesagt und eine resignierte Handbewegung gemacht, das mit dem Terpentin auf Handgelenken und Fussknöchel ist ja noch harmlos gewesen, aber als man dazu übergangen ist, kleine Brettchen mit lang hervorstehenden Nägeln an den Hürden zu befestigen, habe ich gewusst, dass meine Tage gezählt sind. Das hält keiner längere Zeit durch, hat er gesagt, wenn man nicht hoch genug springt und die Hürde nicht nehmen kann, zerfetzen einem die Nägel regelmässig die Brust, wollen Sie sehen? Er hat sein Spitalsnachthemd aufgeknöpft und ich habe nach kurzer Zeit meinen Blick angewandt. Susanna wird sich nicht lumpen lassen, hab ich gesagt und möglichst viel Zuversicht in meine Stimme gelegt, das mit dem Gnadenbrot war kein leeres Gerede, da bin ich ganz sicher, Susanna macht immer Nägel mit Köpfen, warten Sies ab. In der Folge habe ich dem jungen Mann mehrmals Mut zugesprochen, zu einer längeren Unterhaltung ist es nicht mehr gekommen.   Jetzt ist es spätnachts. Der junge Mann stöhnt, er hat, wie es scheint, erhebliche Schmerzen. Die meiste Zeit liegt er wach, wenn ihn die Müdigkeit übermannt, spricht er im Schlaf. Aus, hat er gerade vorhin mehrere Male gesagt, aus und vorbei. Den Gnadenschuss, hat er gesagt, ich habe es deutlich gehört, den Gnadenschuss, bitte.

 

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© 2013 Elfriede Kern